Wiegenlied Roman
du dir denken kannst. Unsere Kundschaft war noch nie die vornehmste, aber jetzt kommt das übelste Gelichter angekrochen. Penny und die Unerbittliche haben sich schon verdrückt - sie wollen es auf eigene Hand versuchen.«
Dann weinte Lula in Nellys flaumiges Säuglingshaar, was das Kind nicht im Geringsten störte, denn Wanda gab es
nicht mehr, sagte sie, weil sie eine Verabredung mit dem Tod bei der kalten Pauline hatte.
Sidonie verstand kein Wort.
»Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen, aber ich war schlappherzig ihr gegenüber.«
So saßen sie nun mit den Kindern. Petja schlief selig an Sidonies Brust, und Nelly versuchte auf der weichen Landschaft von Lulas Busen redlich den Kopf zu heben, sie war ein sehr waches Geschöpf.
»Ich bleibe bei dir und helfe dir mit den Kindern«, sagte Lula. »Sag nicht, dass du mich nicht brauchen kannst.«
Doch Sidonie musste es sagen, so schwer es ihr fiel. Sie hätte Lula gern bei sich gehabt und es vielleicht sogar zugelassen, einmal mit ihr in einem Bett zu schlafen. (Wie schön es wäre, in jemandes Armen zu liegen!)
Doch sie hatte schon einen Fehler gemacht. Er hatte Friedo das Leben gekostet. Sie dachte an Celestines Warnung, dass es für manche Geheimnisse gute Gründe gäbe, und schickte Lula fort.
Als sie weg war, konnte sie endlich weinen.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf Helene zu warten. Bis sie kommen würde, und darauf, dachte Sidonie, konnte sie sich verdammich verlassen, bis dahin hatte sie eine Menge zu bedenken. Was sie ihr sagen sollte und was nicht.
Doch Helene kam nicht.
TAG FÜNF
Elsa hatte mit vielem zu ringen, während sie ihren Vater sterben sah, in der Enge seiner Dienstwohnung, inmitten dieses grauenhaften Ortes voller Siechtum, Krankheit und Tod, der Charité.
Die ernsten Gesichter der Gelehrten, denen sie hatte begegnen müssen, machten ihr zu schaffen, und Helenes verzweifelte Tapferkeit. Unermüdlich befeuchtete die Schwester ihm die trockenen Lippen und träufelte ihm Laudanum ein, sobald sie erkannte, dass die Schmerzen für ihn nicht mehr auszuhalten waren.
Noch nie hatte Elsa einen Menschen leiden, geschweige denn sterben sehen. Auch den Mann im Theater nicht, auf dessen Leichnam man sie hatte einen Blick werfen lassen, damit sie beschwören konnte, dass sie ihn nicht kannte. Er hatte ausgesehen, als schliefe er, es hatte sie unberührt gelassen. Im Gegensatz zu Helene und Professor Hähnlein, der den Vater stündlich visitierte, verstand sie nicht das Geringste vom Sterben, doch dass die Züge ihres Vaters die unwiderruflichen Zeichen des Todes trugen, erfasste Elsa genau.
Sie ertrug nicht, wie erbarmungslos die Krankheit, der er zum Opfer fiel, ihren Vater, diesen schönen Menschen, entstellte. Seine dichten grauen Locken waren das Einzige an ihm, das sie an den Mann erinnerte, der er noch vor so unfassbar Kurzem gewesen war. Doch auch seinem Haar haftete der Geruch nach Fäulnis an. Die Gerüche verursachten ihr beschämenden Ekel. Sie hatte die Handschuhe nicht ausziehen können, als sie ihn zur Begrüßung berührte, bis jetzt nicht, und sie kämpfte mit der furchtbaren Frage, ob sie ihn würde küssen können.
Der rasselnde, riechende Atem, die bläulichen geöffneten Lippen, die fahle, feuchte Haut seiner eingesunkenen Wangen, seine Augen, die, sobald sie geschlossen waren, bestürzend wie die eines Vogelkindes aussahen - sie hatte Angst davor, ihn so in Erinnerung zu behalten.
Schon verlassen sind die Stunden,
Hingeschwunden Schmerz und Glück.
»Ob er mich hören kann?«
»Komm ein wenig näher.«
Sie spürte Helenes Hand. Warum wusste sie, dass es ihr half, vom Stuhl aufzustehen und sich auf den Bettrand zu setzen?
Fühl es vor, du wirst gesunden. Traue neuem Tagesblick. Täler grünen, Hügel schwellen, buschen sich zu Schattenruh, und in schwanken Silberwellen wogt die Saat der Erde zu.
Sie hatte ihn geweckt.
»Faust«, flüsterte er.
Sie beugte sich vor und küsste seine Stirn.
»Ja, Vater.« Hastig streifte sie die Handschuhe ab. »Ich werde das Gretchen spielen, und du musst gesund werden, um mich zu sehen.«
»Wie gern würde ich es dir versprechen. Aber ich kann es nicht.«
Er stöhnte auf. Seine Linke fuhr unruhig über das Betttuch, bis er die Hände seiner Töchter fand.
Während es mit ihm zu Ende ging, bat Clemens Heuser darum, dass man ihn in Marburg neben seiner Frau beisetzen sollte. Hähnlein nahm er das Versprechen ab, seine Sektion vorzunehmen.
Mit einem letzten Wunsch an
Weitere Kostenlose Bücher