Wiener Requiem
zusammen. Sie und Ihresgleichen. Und dann wundern Sie sich, warum man Sie nicht leiden kann.«
Jetzt war es an Werthen, seinen Zorn zu zügeln, während er die junge Frau aus dem Haus auf die Straße geleitete. Als sie in der warmen Sommersonne standen, konnte er nicht mehr an sich halten.
»Sprechen Sie nie, nie wieder so in meiner Gegenwart. Oder haben Sie vergessen, dass auch ich ein Jude bin?«
Sie war kurz davor, noch mehr Gift zu verspritzen, als sie plötzlich innehielt und eine zerknirschte Miene aufsetzte.
»Sie haben recht. Ich weiß wirklich nicht, was da über mich gekommen ist. Aber dieser Schönberg! Er ist so ein Schmarotzer, ein altes Waschweib. Ausgerechnet der spricht von jämmerlichen Kompositionen! Hören Sie sich nur seine
Verklärte Nacht
an.«
Dann warf sie Werthen ein gewinnendes Lächeln zu und schob ihren Arm in seinen.
»Bitte vergeben Sie mir. Sagen Sie, dass Sie mir vergeben, bitte, bitte.«
Sie benahm sich wie ein Schulmädchen, nicht wie die »femme fatale«, die sie sonst so gerne spielte. Werthen jedoch schüttelte jetzt seinerseits ihren Arm ab.
»Sind Sie seine Geliebte?«
Die Frage schien sie nicht sonderlich zu überraschen, obwohl sie immerhin ein wenig errötete.
»Herr Advokat, eine solche Frage stellt man einer jungen Dame nicht.«
»Fräulein Schindler, Sie sind nur dem Alter nach eine junge Dame. Ich finde nicht, dass Sie auch nur im Geringsten unschuldig wirken, und außerdem habe ich die Frage nicht aus lüsternem Interesse gestellt. Also, sind Sie seine Geliebte?«
»Es gab Momente von Intimität, ja. Warum ist das so wichtig?«
»Das haben Sie selbst früher schon beantwortet. Wer in Ihre Nähe kommt, muss mit Unfällen rechnen.«
Das galt zwar nicht für Bruckner, Brahms und Strauß, aber immerhin hatte Alma nun etwas, worüber sie nachdenken konnte, während sie mit einem Fiaker in die innere Stadt zurückfuhren. Er ließ sie bei ihrem Schneider in der Seilerstraße aussteigen und fuhr dann weiter zur Kanzlei in die Habsburgergasse 4. Die kraftvollen Atlasgestalten, die den ersten Stock der Fassade zierten, gaben ihm ein Gefühl von Verlässlichkeit und Sicherheit, als er das Gebäude durch den Haupteingang betrat.
Und heute war die Tür auch verschlossen, so wie es vorgeschrieben war.
Wie verabredet trafen er sich mit Gross zum Mittagessen. Frau Blatschky hatte plötzlich die gesunde Küche entdeckt und Gross dadurch vom gemeinsamen Tisch vertrieben. Werthen war froh, dass er sich heute mit ihm im Roten Igel am Wildbretmarkt traf. Das Speiselokal war eines von Brahms’ bevorzugten Restaurants gewesen, und zwar aus gutem Grund: Vermutlich gab es hier das beste preiswerte Essen in Wien, eine deftige Mahlzeit aus Fleisch und Kartoffeln. Und beides wurde zur Zeit an Werthens häuslichem Tisch nur selten serviert. Es war ein schöner Tag, das Wetter mild und sonnig, so dassWerthen sich zunächst im Garten nach Gross umsah. Der jedoch saß in einer Stube ganz hinten im Restaurant. In dem großen, dunklen Raum mit der gewölbten Decke aßen normalerweise die Arbeiter an großen Tischen gemeinsam. Gross hatte einen dieser großen Tische für sie beide allein reserviert.
»Hier beliebte Brahms zu speisen«, erklärte Gross, als Werthen sich zu ihm setzte.
Der Kriminologe setzte seine Hommage auf Brahms mit einem Ungarischen Tokaier zum Essen fort, weil dies der Wein gewesen war, den der bärbeißige alte Komponist besonders geschätzt hatte. Werthen begnügte sich derweil mit einem Viertel herben Nussberger aus Krems. Beide bestellten eine reichhaltige Mahlzeit, als würden sie es feiern, wieder einmal gemeinsam zu essen. Gross entschied sich für ein großes Holzbrett, auf dem sich Würste und Sauerkraut türmten, während für Werthen das Festessen aus gekochtem Rindfleisch und frisch geriebenem Meerrettich bestand. Vorher gab es Leberknödelsuppe und zum Nachtisch zwei Teller Apfelstrudel mit lockerer, goldener Kruste.
Während der Mahlzeit sprachen sie kaum. Eigentlich war Gross jederzeit zu einem Gespräch aufgelegt, aber da er nun der Marter von Frau Blatschkys gesunder Küche entkommen war, erschöpfte sich seine Ausdruckskraft in lustvollem Stöhnen, mit dem er jeden ersten Bissen eines neuen Gerichts willkommen hieß.
»Dieses opulente Mahl verlangt nach einem Kaffee«, brachte er heraus, nachdem er den letzten Bissen seines Strudels vertilgt hatte.
Beim Mokka berichtete Werthen von seinem Erlebnis vomMorgen bei Zemlinsky. Gross hörte
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