Wiener Requiem
Kanal in die Leopoldstadt, das jüdische Viertel. Von dort waren sie erst kürzlich hierher umgesiedelt. Die Familie entstammte dieser eigenartigen Melange von Rassen und Glaubensbekenntnissen, wie es für einen großen Teil der Bevölkerung Wiens typisch war. Der Vater Adolf war im Sommer verstorben. Er war Sohn katholischer Eltern, hatte sich aber in Clara verliebt, die Tochter eines sephardischen Juden und einer Muslimin. Die ganze Familie konvertierte zum Judentum; dies war die Religion, mit der Zemlinsky aufwuchs.
Wie Kraus Werthen anvertraut hatte, war Zemlinsky ein vielversprechender Komponist. Drei Jahre älter als Kraus, studierte er am Wiener Konservatorium, gewann eine Vielzahl Preise und Auszeichnungen für seine Kompositionen und war erst in diesem Sommer zum musikalischen Direktor am Carltheater ernannt worden. Das war ein atemberaubender Erfolg für einen Mann, der gerade erst achtundzwanzig Jahre alt geworden war. Seine Oper
Es war einmal
sollte, so war zu hören, im nächsten Winter von Mahler an der Hofoper aufgeführt werden. Wie zuvor Mahler hatte auch Zemlinsky sich im Namen der Assimilation von seinem Judentum losgesagt.
Werthen wurde in das Zimmer des Komponisten in derWohnung der Familie geführt. Es war ein Arbeitszimmer mit Schlafgelegenheit, dessen Wände vielfältig dekoriert waren. Lorbeerkränze verzierten eine ganze Wand, eine andere war mit Bildnissen von Komponisten bedeckt, die der junge Mann offensichtlich schätzte: Johannes Brahms nahm darunter einen hervorgehobenen Platz ein; er war ein früher Förderer von Zemlinskys Werk, wie Kraus berichtet hatte. Wagner war auf einem Kupferdruck zu sehen, ein Mistelzweig war am Rahmen befestigt, als sei das Bild ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Auf seinem Schreibtisch stand eine Büste von Brahms sowie das Bild einer jungen und sehr attraktiven Frau.
Bei der es sich um Alma Schindler handelte.
Der Komponist selbst lag lang ausgestreckt – er maß allerdings nur einen Meter und sechzig – auf einer Liege, und seine Stirn zierte ein großes Pflaster. Kraus hatte sich ein ungeheures Vergnügen daraus gemacht, Werthen mit Gerüchten über die enormen sexuellen Abenteuer des kleinen Mannes zu schockieren. Denn trotz seiner Statur und seines wirklich hässlichen Gesichtes schien Zemlinsky schöne oder zumindest willige Frauen anzuziehen wie ein Frosch die Prinzessinnen. Von einem Kinn konnte man kaum sprechen, seine Nase war dagegen groß und plump, und seine Augen traten hervor, als wollten sie jeden Augenblick aus seinem Kopf herausplatzen.
Es kümmerten sich gerade mehrere Leute um ihn: seine Schwester Mathilde, dann eine junge Sopranistin, die Werthen als Melanie Guttmann vorgestellt wurde – und sich später als Zemlinskys Verlobte entpuppte – sowie ein recht korpulenter junger Mann mit zurückweichendem Haaransatz, einem sehr intensiven, starren Blick und einer Halskrause – Herr Arnold Schönberg, ein ehemaliger Schüler von Zemlinsky und Mitgliedin Zemlinskys kleinem Orchester Polyhymnia. Aus der Art, wie Mathilde und Schönberg trotz Werthens Anwesenheit Blicke austauschten und sich ihre Hände wie unabsichtlich berührten, wenn sie ihm ein Glas Wasser reichte, zog Werthen den eindeutigen Schluss, dass sie ein Liebespaar waren.
Die Welt der Wiener Musik und ihrer Musiker war wahrhaftig recht klein.
Fräulein Schindler machte sie kurz miteinander bekannt. Dann wollte Zemlinsky etwas sagen, aber Schönberg fiel ihm ins Wort.
»Wir sagten Ihnen doch bereits, dass dies hier vollkommen unnötig war, Fräulein Schindler. Es handelte sich um ein dummes Missgeschick, nichts weiter. So etwas kommt im Theater nun mal vor.«
Seine Stimme klang erstaunlich hoch, aber er sprach sehr vehement.
»Armer Zem«, sagte Alma. »Es ist zu schrecklich. Es ist alles mein Fehler, warum musste ich auch unbedingt Ihre Studentin werden. Ich trage einen Fluch auf mir, der alle trifft, die mir zu nahe kommen.«
Diese Bemerkung schien Fräulein Guttmann sichtlich zu missfallen.
»Ich bin sicher, dass es eine logische Erklärung gibt«, sagte sie. »Lassen Sie uns nicht zu melodramatisch werden. Davon hat niemand etwas.«
»Ruhe, bitte, und zwar ihr alle!«, befahl Zemlinsky von seinem Krankenbett aus. »Wer ist dieser Kerl, den Sie hier angeschleppt haben, Alma?«
Werthen ergriff das Wort, bevor sie die Möglichkeit hatte, zu viel über die Ermittlungen im Fall Mahler zu erzählen.
»Ich bin Bevollmächtigter der Familie und widme mich in letzter
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