Wiener Requiem
ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Ich habe doch schon alles der Polizei gesagt. Können Sie nicht einfach mit den Beamten sprechen?«
»Es würde mir sehr helfen, den Ablauf der Ereignisse aus erster Hand zu erfahren. Herr Mahler hat mich beschworen, den Schuldigen zu finden. Sie haben ja selbst gesehen, dass er am Bahnhof mit mir gesprochen hat.«
»Ja, Sie haben recht. Wir sind alle etwas überfordert von dem Geschehen. Fangen Sie an! Ich tue alles, wenn es denn Gustl hilft.«
»Lassen Sie uns mit den offensichtlichsten Fragen beginnen.« Werthen zog sein ledernes Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. »Wer hat in letzter Zeit die Villa Kerry besucht?«
»Sie meinen außer Justine, Arnold und mir selber?«
Rosé ist also dort geblieben, dachte Werthen. Im Falle einer Heirat mit Justine würden zwar beide aus Mahlers Testament gestrichen werden, aber dennoch war Rosé als Gast im Haus geblieben.
»Ja.«
»Nun, da war Herr Regierungsrat Leitner. Er war gestern in der Villa und hat einige wichtige Dokumente vorbeigebracht, die Gustl unterschreiben musste. Sie haben eine Zeitlang miteinander gesprochen. So viel ich weiß, ist Herr Leitner heute Morgen nach Wien zurückgekehrt.«
»Hatte er etwas zu diesem Treffen mitgebracht?«
»Sie meinen zum Beispiel eine Schachtel Lokum?«
Werthen nickte.
»Die Schachtel ist vor mehr als einer Woche angekommen, direkt aus Istanbul. Gustl hat schon wer weiß wie viele Stücke aus dieser Schachtel genascht. Ich bin sicher, dass hier ein Irrtumvorliegt. Das Lokum kann nicht die Quelle der Vergiftung sein.«
»Haben sich die beiden … freundlich unterhalten?«
Sie sah ihn mit ihren grauen Augen scharfsinnig an. »Sie möchten wissen, ob wir gehört haben, wie sie sich angeschrien haben, so wie beim letzten Mal?«
»Und? Haben sie?«
»Nein. Diesmal sind sie offenbar höflich miteinander umgegangen.«
»War sonst noch jemand da?«
»Diese Sopranistin, Gerta Rheingold. Sie tauchte am Mittwoch unerwartet in der Villa auf.«
Die Dame also, von der Mahler aus Unzufriedenheit mit ihrem Gesang verlangt hatte, eine Mozart-Arie dreißig Mal hintereinander zu singen. Am Ende hatte sie die Arie mit dem so sprechenden Inhalt förmlich herausgeschrien und ihm entgegengeschleudert: »Stirb, du elendes Scheusal!«
»Ich denke, auch hier hat es eine Wiederannährung gegeben«, behauptete Natalie. »Und es schien auch nicht so, als hätte sie heimlich Süßigkeiten mitgebracht. Als sie ging, haben sie sich sogar mit einem Kuss auf die rechte und linke Wange verabschiedet. Und dann waren natürlich noch die diensthabenden Gendarmen und Ihr Mitarbeiter Herr Tor da, der ebenfalls gestern angekommen ist. Er scheint sehr tüchtig zu sein, aber auch furchtbar schüchtern.«
Werthen stimmte ihr zu.
»Nein, es muss doch dieser widerliche kleine Mann gewesen sein, den die Polizei in Gewahrsam nahm, weil er sich am Nachmittag vor der Villa herumgetrieben hat.«
Davon hörte Werthen zum ersten Mal.
»Wer?«
»Ich habe den Namen gehört. Wie hieß er noch gleich? Ich kann mich nicht … was für ein abscheulicher kleiner Kerl. Er hat behauptet, Gustl hätte nach ihm geschickt. Das war natürlich absoluter Unsinn. Warum hätte er mit so einem Mann sprechen wollen? Gustl ist strikt gegen den Einsatz von Claqueuren.«
Gross erwartete ihn am Ausgang des Krankenhauses.
»Ich habe vermutet, dass Frau Bauer-Lechner in meiner Abwesenheit auskunftsfreudiger sein würde. Und, war es so?«
Werthen schilderte Gross rasch, was er erfahren hatte.
»Schreier«, stellte Gross fest. »Der muss es gewesen sein. Er ist der Anführer der Claque. Und man hat ihn in Haft genommen? Das ist doch absurd.«
Werthen hatte eigentlich gehofft, man könne das Gespräch mit Drechsler auf den nächsten Morgen verschieben, da er dringend nach Hause zu Berthe wollte, aber aufgrund dieser neuen Information mussten sie schon an diesem Abend mit ihm sprechen. Es war noch immer hell, und die Luft war mild. Von der Donau wehte ein süßlicher Duft herüber.
»Wer wusste alles von dieser Schwäche, die Mahler für diese grässlichen Süßigkeiten hegt?«, erkundigte sich Gross.
»Jede Person, die jemals in seinen Gemächern gewesen ist. Es lag immer eine Schachtel Lokum in seiner Reichweite. Und außerdem jeder, der die Klatschspalten liest. Die Journalisten lieben es, diese aufschlussreichen privaten Dinge auszuplaudern.«
»Inwiefern aufschlussreich?
Werthen zuckte mit den Achseln. »Als Beweis
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