Wiener Requiem
blitzschnell zu öffnen. Er braucht dazu nicht einmal eine Minute«, erklärte Gross, dem man seine Missbilligung über den primitiven Zustand des betreffenden Schlosses anmerkte. »Allerdings frage ich mich, warum er die Tür hinter sich wieder abgeschlossen hat.«
»Offensichtlich hat die Person Wert darauf gelegt, dass alles ganz normal aussieht«, entgegnete Werthen. »Ein Klient hätte in Unkenntnis der Sprechzeiten in der Mittagspause kommen können. Er wäre hereingeplatzt und Zeuge eines gerade stattfindenden Einbruchs geworden. Außerdem war es tatsächlich so, dass der Mann durch die verschlossene Tür Zeit gewonnen hat. Als er hörte, wie ich den Schlüssel ins Schloss steckte, war er noch in der Lage, sich zu verstecken und mich zu überrumpeln, als ich schließlich mein Büro erreichte.«
»Das stimmt«, sagte Gross. »Daran habe ich auch schon gedacht.« Allerdings klang er nicht sonderlich überzeugend.
Schließlich entschieden sie, die Polizei nicht über den Einbruchzu informieren. Sie fürchteten, dies könnte ihre Ermittlungen weiter erschweren.
Am Freitag hatte sich Werthen so weit erholt, dass er am Vormittag wieder in die Kanzlei gehen konnte. Dort hatte Tor bereits für Ordnung gesorgt. Da Werthen ihm keine umfassende Loyalität schuldete, erzählte er ihm auch nicht die ganze Geschichte. Er erwähnte nur einen Eindringling, der die Akten durchwühlt habe. Seine Abwesenheit führte er auf eine kleine Lebensmittelvergiftung wegen verdorbenen Fischs zurück, weshalb er einige Tage nicht ins Büro hatte kommen können.
Tor schien tatsächlich beunruhigt, weil jemand in die Kanzlei eingebrochen war, aber es gelang Werthen rasch, ihn zu beschwichtigen.
»Wir haben ja Frau Ignatz als Wachtposten. Sie wird ab sofort besonders auf verdächtige Charaktere achten.«
Tor jedoch nahm diese hingeworfene Bemerkung allerdings sehr ernst. »Sie ist eine aufmerksame Frau.«
Werthen konnte nur zustimmen.
»Und wie ist Ihre kleine Expedition nach Altaussee verlaufen, Herr Tor?«
»Vollkommen ereignislos, Herr Werthen. Wenigstens hat zur Abwechslung die Sonne geschienen. Herrn Mahlers weitere Anfragen waren leicht zu beantworten.«
Es schien damit alles gesagt zu sein, aber Tor hatte offensichtlich noch etwas auf dem Herzen.
»Aber?« Werthen wollte es ihm leicht machen.
»Es steht mir eigentlich nicht zu, so etwas zu äußern, aber er verhält sich meiner Meinung nach ungerechtfertigt streng seiner Schwester gegenüber.«
»Ich dachte, das sei schon geklärt. Emma wird im Testament nicht mehr berücksichtigt.«
»Es geht nicht um Emma, Herr Advokat, sondern um Justine. Sollte sie Herrn Rosé heiraten, beabsichtigt Mahler, auch sie zu enterben. Das war die Änderung, die er in seinem Testament vornehmen wollte.«
Werthen hatte fast damit gerechnet. Im Falle einer Hochzeit mit einem der Mahler-Mädchen würde es Arnold Rosé nicht besser ergehen als seinem Bruder Eduard. Was für eine Bosheit und Erbitterung mochten bei einer derart kleinkarierten Entscheidung Mahlers eine Rolle spielen? Aber er hatte nicht darüber zu urteilen. Tor und er selbst waren nur die Erfüllungsgehilfen und hatten in dieser Angelegenheit nichts zu entscheiden.
Er wollte das gerade ausführen, als die äußere Bürotür aufflog. Alma Schindler rauschte sichtlich aufgelöst in die Kanzlei.
»Mein Gott, Herr Advokat! Es ist schon wieder geschehen.«
»Beruhigen Sie sich, Fräulein Schindler!«, sagte Werthen, nahm ihre Hand und führte sie in sein eigenes Büro, wo sie ungestört waren.
Dann half er ihr in den Stuhl vor seinem Tisch.
»Worum geht es? Gab es eine weitere Attacke auf Mahler? Das ist unmöglich! Die Polizei …«
»Nein, nicht Mahler!« Sie kreischte fast. »Dieses Mal ist es Zemlinsky. Jeder Mann, dem ich näher komme, scheint in Gefahr zu geraten.«
Sie war in einem schrecklichen Zustand, und Werthen fürchtete, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde.
»Tief einatmen, Fräulein Schindler«, riet er ihr, als ihm Berthes Hausrezept einfiel. »Tief einatmen. Ich zähle bis zehn.«
Schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie berichten konnte, was geschehen war.
Ihre Geschichte jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Wieder war ein Komponist das Opfer, und sie hatten eine weitere mögliche Zielscheibe.
Alexander Zemlinsky lebte mit seiner jüngst verwitweten Mutter und seiner Schwester Mathilde in der Weissgerberstraße im Dritten Bezirk. Von dort ging der Blick über den
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