Wiener Requiem
aufmerksam zu und nickte bedächtig, als Werthen geendet hatte.
»Beginnt unser Mörder jetzt ein neues Spiel? Mahler hat sich als zu schwieriges Opfer erwiesen. Stattdessen sucht er sich nun Zemlinsky aus. Ist er als Komponist tatsächlich mit Brahms und Strauß vergleichbar?«
Werthen zuckte mit den Schultern. »Kraus scheint das jedenfalls zu glauben. Er hat von ihm gesprochen, bevor diese ganze Geschichte begann. Und Zemlinsky ist immerhin Chefdirigent beim Carltheater geworden.«
»Das ist nicht gerade ein sonderlich prestigeträchtiges Engagement.«
»Nein«, gab Werthen zu, »aber der Mann ist nicht einmal dreißig. Das ist durchaus beeindruckend. Und Brahms glaubte an sein Talent. Mit einer seiner Opern hat er, glaube ich, den Luitpold-Preis in München gewonnen.«
Gross schnaubte herablassend, um zu zeigen, wie viel er von deutschem Musikgeschmack hielt.
»Dann müssen wir wohl, nehme ich an, dieser Spur zum Carltheater folgen«, sagte er.
Das überraschte Werthen. Er hatte erwartet, dass Gross durch die jüngste Entwicklung ermutigt würde. Aber der Kriminologe schien fast verärgert zu sein, dass es nun ein weiteres potentielles Opfer gab – und Werthen musste zugeben, dass ihm ebenso zumute war. Diese neue Ermittlung würde sie nicht wirklich weiterbringen oder allenfalls an zu viele neue Schauplätze.
»Das bedeutet, ein neuer Kreis von Verdächtigen, weitere Verhöre. Mich beschleicht manchmal das Gefühl, als wären wir bei diesem Fall in einen Sumpf geraten.«
»Ich könnte mich um das Carltheater kümmern«, bot Werthen halbherzig an.
»Es geht nicht nur darum, sich um etwas zu kümmern«, fuhr Gross plötzlich gereizt hoch. »Natürlich können wir uns um diese neue Spur kümmern. Aber wir erzielen keinen Fortschritt, wenn wir so herumwursteln, ständig unterwegs zu einem weiteren Verdächtigen, einem weiteren Verhör. Vielleicht verkomplizieren wir die Dinge zu sehr.«
Das war genau Werthens Gedanke, aber so leicht wollte er den Kriminologen nicht davonkommen lassen.
»Sie waren doch so begeistert von der Möglichkeit, dass ein Serienmörder die großen Komponisten Wiens ermordet haben könnte«, erinnerte Werthen ihn. »Sie sprachen selbst von etwas Bedeutenderem als nur einem einfachen Anschlag auf Mahler.«
»Ich bitte Sie, hier zu unterscheiden. Und bis jetzt haben Sie sich nicht einmal die Mühe gemacht zu fragen, wie ich meinen Morgen verbracht habe.«
»Also gut. Wie haben Sie Ihren Morgen verbracht?«
»Bei einem angesehenen Chirurgen, einem Schüler des großen Billroth, und ich habe über Leberprobleme geklagt, in der Hoffnung, die Diagnose Leberkrebs zu provozieren.«
Kurzfristig befürchtete Werthen, Gross’ Urteilsvermögen könnte durch den Mangel an richtiger Nahrung beeinträchtigt sein. Aber dann begriff er.
»Sie denken an Brahms?«
»Ja. Ich habe in Erfahrung bringen können, dass es keine Möglichkeit gibt, die Symptome von Leberkrebs künstlich zu erzeugen. Hinzu kommt, dass eine kurze Obduktion durchgeführt wurde, bevor Brahms auf dem Zentralfriedhof in derMusikerecke beigesetzt wurde. Es steht fest, dass er an Krebs gestorben ist und nicht an irgendeinem exotischen Gift.«
»Und Bruckner? Strauß?«
Gross hob abwehrend die Hände. »Wir werden sehen.«
»Was schlagen Sie vor?«
Gross zögerte einen Moment und atmete tief ein. »Verein fachung «, sagte er dann.
Als sie Werthens Büro erreichten, hatte sich Gross’ Bedürfnis nach Vereinfachung weiter verstärkt.
Tor begrüßte sie, als sie hereinkamen. »Ihre Gattin hat angerufen, Herr Advokat. Sie sagte, es sei dringend.«
Eine plötzliche Panik ergriff Werthen. Er befürchtete schon das Schlimmste wegen ihrer Schwangerschaft.
Gross bemerkte die Veränderung in seiner Gesichtsfarbe. »Immer mit der Ruhe, Werthen. Das kann alles Mögliche bedeuten.«
Werthen stürmte in sein Büro, nahm hastig den Telefonhörer ab und gab der Vermittlung seine Privatnummer. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Frau ihn endlich verbunden hatte. Schließlich hörte er ein Klingeln am anderen Ende der Leitung. Einmal, zweimal, dreimal.
Frau Blatschky stand jetzt womöglich furchtsam daneben und rührte vor lauter Zittern den neumodischen Apparat nicht an, weil er ihr einen Stromschlag versetzen könnte. Und Berthe lag vielleicht irgendwo bewusstlos auf dem Boden, oder es war sogar noch Schlimmeres geschehen.
Beim fünften Klingeln wurde der Hörer abgehoben.
»Hier ist der Wohnsitz
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