Wieviele Farben hat die Sehnsucht
du doch schon so lange unterwegs.“
„Was ist der Sinn des Lebens?“ Der Mann stand regungslos in der Stille der nächtlichen Wüste und wagte kaum zu atmen.
„Du warst in der Steppe und im Gebirge. Du hast im Urwald gelebt und am Meer. Jahrelang hast du dir dein Gehirn zermartert — und weißt es immer noch nicht?“
Der Wanderer sah hinaus in die Wüste, wo der Mond sanfte Schatten in den Sand zeichnete. Er lauschte in die Stille und erwiderte schließlich: „Nein, ich weiß es immer noch nicht. Überall wurde mir ein anderer Sinn gelehrt. Immer hörte es sich richtig und gut an, und doch schien auch immer etwas zu fehlen.“
Die dunkle Gestalt nickte leicht. „Dein Weg mag hier enden — oder nicht“, hörte der Wanderer die Stimme, oder war es das Geräusch der Sandkörner, die sich an den Steinen der Wüste rieben?
„Was ist nun der Sinn des Lebens?“ rief der Wanderer verzweifelt. „Ich finde einfach keine Antwort!“
Die Gestalt hob einen Arm. Der Falke wurde unruhig auf der Schulter des Wanderers und erhob sich schließlich mit einem kurzen Flügelschlag, um auf dem Arm der Gestalt zu landen. „Gib mir den Stein, die Samenkörner und die Muschel“, befahl sie. Der Wanderer legte das Gewünschte auf den Tisch. „Der Sinn des Lebens, fremder Wanderer, ist die Steppe, das Gebirge, der Urwald, das Meer und die Wüste — und doch keines von allem.“ Die Stimme war jetzt sanft wie der Tanz schillernder Farben eines Regenbogens. „Der Sinn des Lebens, Wanderer, ist das Leben!“ Dann erhob sich die dunkle Gestalt, steckte Stein, Samenkörner und Muschel unter den weiten Umhang und ging langsam und gebückt, den Falken auf der Schulter, in die kleine Hütte.
Der Mann saß die ganze Nacht vor der Tür in der Wüste. Der Mond und die Sterne zogen über ihm ihre Bahn — und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er an nichts. Er hörte das ruhige Schlagen seines Herzens und sein Atem wurde tief.
Als sich der Morgen mit frischer, kühler Feuchtigkeit auf seine Haut legte, erhob er sich, um seinen Weg zu suchen. Er brauchte jetzt nicht mehr nachzudenken und zu grübeln. Vielleicht würde ihm dies manchmal helfen auf dem weiten Weg, der vor ihm lag — doch finden würde diesen Weg allein sein Herz.
Roland Kühler
Der Zauberspiegel
D amals, als sich diese Geschichte zutrug, drehte sich die Erde viel langsamer als heute. Die Kontinente waren noch nicht auseinandergetrieben, und weder Tiere noch Menschen wurden von Grenzen in ihren Wanderungen behindert.
Das Mädchen Enea lebte in jener fast vergessenen Zeit allein in einer bescheidenen Hütte. Wie so oft, schlenderte Enea auch an diesem hellen Frühlingsmorgen hinaus in den noch stillen Wald. An einem kleinen See ließ sie sich nieder und schleuderte immer wieder rund gescheuerte Kiesel in das klare Wasser. Sie liebte es, mit den Blicken in den sich ausbreitenden Kreisen der kleinen Wellen zu versinken und zu träumen.
Plötzlich wurde sie durch einen schrillen Hilferuf aufgeschreckt, den verzweifelten Schrei einer Frau. Ohne zu zögern, rannte sie los. Hinter einigen Sträuchern fand sie ein hilfloses Bündel Mensch in einem Netz gefangen, das an einem kräftigen Ast baumelte. Immer wieder stieß die gefangene Frau Hilferufe aus, während sie sich wütend in den kräftigen Maschen hin und her warf.
„Sei doch still!“ rief Enea, als sie unter den Baum trat. „Sei doch still und bleib ruhig liegen. Sonst kann ich dir nicht helfen.“
Erleichtert wandte die Frau im Netz den Kopf und sah zu dem Mädchen hinunter. „Endlich hat mich jemand gehört“, rief sie atemlos. „Schnell, hilf mir aus dieser Falle! Du kannst dir wünschen was immer du willst, aber rette mich, bevor die Gnome kommen.“
„Du brauchst mir nicht zu sagen, daß du mir Wünsche erfüllst“, erwiderte Enea, „daran glaube ich nicht, und außerdem hätte ich dich auch so losgeschnitten.“
Gewandt kletterte sie auf den Baum, und mit ihrem kleinen Messer, das sie sonst zum Pilzesammeln benutzte, säbelte sie so lange am starken Tau des Seiles, bis es schließlich aufdröselte und riß. Eilig befreite sich die Frau aus dem verworrenen Netz und hastete mit Enea zurück zum See. Mürrisch und wütend blickte sie immer wieder hinter sich, halblaut Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelnd. Am See angekommen setzten sich die beiden aufatmend in das dichte Gras. Enea blickte die Frau neugierig an. Es war schwierig, ihr Alter zu schätzen. Wenn sie lachte,
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