Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
für die Bande geholt. In dem Alter fangen die Jungs an zu futtern wie die Königstiger!«
»Sie finden den Typen nicht, oder?«, schaltete Astrid Nedopil sich ein. »Sie finden ihn nicht. Der ist über alle Berge.«
Sandra setzte an, etwas zu sagen, aber Astrid fuhr tonlos fort: »Ich sitze in einem Albtraum fest. Verstehen Sie? In einem Albtraum. Ich weiß keinen Ausweg.«
»Ich würde gern den Rechner Ihres Sohnes mitnehmen«, bat Sandra. »Er hatte doch einen Computer?«
»Ich kümmere mich um sie«, sagte Anabel Binder, als sie Sandra kurz darauf zur Tür brachte. »Sie wird das schaffen. Sie will es auch schaffen. Bestimmt.«
17
Manchmal kamen ihr beim Betrachten der Fotos die Tränen. Manchmal lächelte sie unwillkürlich dabei. Dann wieder konnte sie es nicht ertragen, Berts augenzwinkerndes Grinsen auf den Polaroids zu sehen. Es gab Tage, an denen sie vor Zorn auf Bert, auf diese ganze dumme Geschichte, alle Fotos am liebsten in eine Ecke geschleudert hätte.
Heute war so ein Tag.
Liliana klaubte mit tauben Fingern die Bilder zusammen und verstaute sie in der Box.
Zorn und Wut sind normale Reaktionen im Trauerprozess, hörte sie Neta sagen. Genauso wie die Rückenschmerzen vielleicht. Normal mochten sie sein, aber sie waren kaum zu ertragen. Liliana war immer eine sanftmütige Frau gewesen, die wenig aus der Ruhe bringen konnte. Diese Aufwallungen von Hass und Zorn schienen ihr geradezu bedrohlich.
Wenn sie nur wüsste, warum Bert sich mit dieser Frau eingelassen hatte. Liliana trat auf die Terrasse in die Morgensonne. Sie mochte das Wohngebiet nicht besonders, diesen Gulag aus Einfamilienhäusern. Mit Bert war es o. k. gewesen, hier zu leben, und als Johannes zur Welt kam, war sie für den Garten dankbar gewesen. Aber wie lange war das her … Am 28. Oktober wäre ihr Sohn 26 geworden. Der dritte Geburtstag, den er nicht mehr erlebte. Liliana ging zurück in die Küche und brühte eine Tasse Kaffee auf. Neta hatte ihr diese Kaffeemaschine geschenkt. Wasser rein, Kaffeepad rein, auf den Knopf gedrückt. Wunderbar für einen Ein-Personen-Haushalt. Jetzt war sie ein Single. Niemand war da, der die Tür öffnete, wenn sie auf die Türklingel drückte, und das tat sie manchmal, nur um den Schmerz zu lindern.
Neta. Johannes. Bert. Die Namen wirbelten in Lilianas Kopf umher.
Der Schmerz konnte bisweilen so unerträglich sein, dass sie sich krümmte, tränenlos. Manchmal aber schien er auch leicht, nur ein Schmetterling auf ihrer Schulter.
Am schlimmsten war das Alleinsein. Zuerst hatte die Einsamkeit vor allem in der Nacht ihre Zähne gezeigt. Liliana hatte wochenlang kaum geschlafen. Inzwischen kam ihr das Aufwachen vor wie ein böser Traum. Sie öffnete ihre Augen. Sah niemanden. Hörte niemanden. Spürte die Einsamkeit wie ein glühendes Messer. Wollte nicht aufstehen. Aber sie raffte sich dann doch auf. Ein zähes Luder, so hatte Bert sie oft genannt und es zärtlich gemeint. Mein kleines Kraftpaket. Sie war immer so viel stärker als Bert gewesen. Hatte Johannes allein großgezogen, während ihr Mann einen gut bezahlten Posten in der Nukleartechnik besaß und wochenlang von Kraftwerk zu Kraftwerk tourte. Die Kämpfe, der Terror zwischen Johannes und seinem Vater klangen ihr noch im Ohr. Johannes, ein überzeugter Grüner, und Bert, der nur die technologische Seite der Atomkraft sah. Wie oft waren die beiden aneinandergeraten, hatten ihre wütenden Stimmen die Wände dröhnen lassen, bis Liliana zu einer Freundin gefahren war, um abzuwarten, dass die Wogen sich glätteten. Dann war Johannes ausgezogen, und die Spannungen ließen nach. Er kam am Wochenende, verbrachte zwei entspannte Tage mit seinen Eltern und zog wieder von dannen. Als er 22 war, hatte er eine Freundin. Ein Jahr später eine andere. Die beiden waren bis kurz vor dem Unfall zusammen.
Liliana ergriff die Tasse und ging wieder auf die Terrasse hinaus. Was für ein herrliches Spätsommerwetter.
Gedanken, Gedanken.
Luftgeister. Verrücktmacher. Folterknechte.
Zu viele Verluste. Und diese ständige Unruhe …
Das Wochenende stand bevor. Sie hasste die Wochenenden. Früher hatte sie sie herbeigesehnt. Jetzt waren sie noch einsamer als die Wochentage. Aber mit Neta wurde alles leichter. Der Schmerz brannte dann nicht mehr so unerträglich in ihrem Herzen, und manchmal, ganz selten, schien es Liliana, als stehle sich ein wenig Freude in ihr Leben zurück.
Es gab Tage, an denen niemand anrief und niemand kam. Dann telefonierte sie
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