Wikinger meiner Traeume - Roman
die Stirn. »Mercia ist weit entfernt von den Küstengebieten, die früher überfallen wurden.«
»Aber Wolscroft liegt an der Themse, und die mündet ins Meer. In meiner Kindheit zogen die Dänen mordend und plündernd an den Ufern entlang.«
Jetzt erinnerte er sich. Die eine Hälfte des Königreichs Mercia hatten die Dänen erobert, die andere gehörte zu Alfreds Reich. »Dein Traum...«
»Welcher Traum? Was weißt du davon?«
Ihre plötzliche Bestürzung weckte seine Neugier, die er jedoch verbarg. »Nur dass du in der Jagdhütte von einem Albtraum heimgesucht wurdest. Anscheinend konntest du nicht erwachen. Das widerfährt uns allen hin und wieder.«
»Ja – vermutlich.«
»Hing dein Traum mit den Dänen zusammen?«
»Vielleicht.« Rycca suchte nach Ausflüchten und fand keine. Wie viel hätte sie in diesem Augenblick für die Fähigkeit gegeben, ihre Mitmenschen zu belügen...
»Träumst du oft von ihnen?«
»Es ist nicht wichtig. Nur eine Erinnerung- aus der Kindheit.«
»Kamen die Dänen nach Wolscroft?«
Schweigend nickte sie. Über jene Ereignisse wollte sie nicht sprechen. In Worte gefasst, würden sie ihr viel zu real erscheinen.
»Sind ihre Schiffe den Fluss heraufgefahren?«
»Ja«, bestätigte sie notgedrungen. »Sie taten – was sie immer taten. Dann verschwanden sie, das war alles. Darf ich den Stein noch einmal sehen? Er ist so wundervoll.«
»Später. Wie alt warst du damals?«
»Sechs...« Inständig wünschte sie, er würde dieses Gespräch beenden.
Er trat näher zu ihr und legte einen Arm um ihre Schultern. Nun wirkte seine Stimme sanft und unnachgiebig zugleich.
»Du hast Menschen sterben sehen.«
Wie eine Frage klang seine Bemerkung nicht, denn er wusste, was ihr Gedächtnis unauslöschlich bewahrte-woran sich alle erinnerten, die einen solchen Angriff überlebt hatten. Inbrünstig dankte er dem Himmel, weil sie verschont worden war – aber sie hatte seelische Wunden erlitten, das erkannte er in diesem Augenblick. »Ist jemand gestorben, den du sehr geliebt hast?«
Sie nickte an seiner Schulter. Wie ihr Kopf dorthin gelangt war, entsann sie sich nicht. »Meine Freundin Aelflynne.«
»War sie in deinem Alter?«
Wieder nickte Rycca, und sie konnte kaum atmen. »Sie durchschnitten ihren Hals. Und dann verblutete sie in meinen Armen.«
Dragon zog ihren bebenden Körper noch fester an sich. »Wie bist du entkommen?«
»Keine Ahnung. Nachdem ich zu Aelflynne gerannt war, wüteten sie rings um mich – überall – mordeten und steckten Häuser in Brand und vergewaltigten die Frauen... Irgendwie übersahen sie mich. Warum ich noch lebe und Aelflynne den Tod fand, weiß ich nicht. Sie war viel lieber und gütiger als ich. Mich hätten sie umbringen müssen.«
»Nein!« Behutsam wischte er die Tränen von ihren blassen Wangen. »So etwas darfst du nicht sagen. Lehrt dich dein Glaube nicht, dass wir uns stets in Gottes Hand befinden?«
»In der Hand eines achtlosen oder unergründlichen Gottes... Warum hat er eine Welt voller Leid erschaffen?«
»Das ist nicht wahr, und du weißt es. Auf dieser Erde gibt es so viel Schönheit und Freude.«
Ja, sie wusste es – seit sie ihn kannte.
»Ich bin ein Wikinger«, betonte er so unglücklich, als würde er es ändern, wenn es möglich wäre.
»So wie die anderen bist du nicht.« Die Wahrheit.
»Trotzdem hast du dich verbissen gegen unsere Heirat gesträubt.«
»Bevor ich dich kannte. Jahrelang hörte ich die Schauergeschichten, die mein Vater über blutrünstige Wikinger erzählte. Und er behauptete, du wärst der Schlimmste von allen.«
»Einfach lächerlich! Ich habe immer nur gekämpft, um mich zu verteidigen.«
»Für Wolscroft spielt das keine Rolle. Seid jener Nacht ist
er von seinem Hass gegen die Wikinger besessen.« Sie hob den Kopf, schaute in Dragons Augen und fasste Mut. »Bei jenem Angriff – ritt er davon. Obwohl seine Leute ihn so dringend brauchten, ließ er sich ein Pferd bringen und flüchtete. Er tötete sogar einen Stalljungen, der ihn beobachtet hatte – und später nichts verraten sollte.«
»Zum Glück bist du ganz anders.«
Ryccas Seele erwärmte sich. Nur ganz langsam. Doch die kleine Flamme des Trostes loderte immer heller. »Vielleicht hasste er die Wikinger so abgrundtief, weil sie ihm seinen Charakter vor Augen führten.«
»Vergiss Wolscroft. Er ist für immer aus deinem Leben verschwunden. Schau nach Norden. Morgen wirst du die ersten Lebenszeichen sehen, die Möwen und Seeschwalben
Weitere Kostenlose Bücher