Wild (German Edition)
… unheimlich. Tabu. Jeden Tag löste sich in unserem Blut eine der winzigen Kapseln auf und sorgte dafür, dass das schwebende Glücksgefühl anhielt. Nicht auszudenken, was passierte, wenn man auch nur einen einzigen Tag aussetzte. Denn unter der Heiterkeit brodelten die aggressiven Impulse, die die Menschheit überwinden musste. Wenn man – bloß angenommen, man wagte es, so weit zu denken – seine Glückswelle nicht einnahm und aus dem Glücksstrom herauskatapultiert wurde, würde man auf den Stand der finsteren Moderne zurückfallen. Wer wollte das schon? Zu einer Karikatur des neuen Menschen werden, wild wie ein Affe? Wenn das geschah, gab es keine Rettung mehr. Die Zellen würden das Wissen um die wilden Gefühle speichern und an die nächste Generation weitergeben. Um zu verhindern, dass so jemand die Evolution des neuen Menschen störte, musste man Neustadt verlassen.
Wer riskierte schon für einen solchen Höllentrip das Glück seines ganzen Lebens?
»Er ist gestorben«, hauchte Charity. »Das ist hart. Aber er hätte ja sowieso nicht weiterleben können – nach so was.«
Wir nickten weise.
Auf dem Platz stolperte Lucky gerade über seine eigenen Füße und landete schmerzhaft auf der Nase. Zeus sprang elegant über ihn hinweg und stieß gegen Orion, der ihm den Ball abnahm und mit einem unglaublichen Wurf im Tor versenkte.
»Ach ja«, seufzte Moon.
»Wie war’s in der Schule, Pia, mein Schatz?«, wollte meine Mutter wissen. Wie immer duftete sie wie ein ganzer Aromaladen, und ich genoss es, von ihr umarmt zu werden.
Selbst meine Mutter war hübscher als ich. Ihre goldblonden Haare fielen ihr wie ein Schleier über die Schultern. Ihr Gesicht war wunderschön, mit milchweißer Haut und blassblauen Augen unter schmalen, leicht geschwungenen Bögen. Sogar ihre Ohrmuscheln waren perfekt geformt. Aber sie stammte auch aus einer Familie, die nicht aufs Geld sehen musste, und hatte das ganze Schönheitsprogramm über sich ergehen lassen. Mit ihrem Beruf als Malerin hatte sie ihren eigenen Abstieg gewählt, trotzdem behauptete sie, das machte ihr absolut nichts aus. »Wir sind doch glücklich. Und du hast eine OP gar nicht nötig, Pi«, sagte sie manchmal zu mir.
Ich überlegte, ob ich ihr erzählen sollte, dass ich einen Kuss von Lucky bekommen hatte. Dass mir schwindelig geworden war und wir beim Spiel über einen Toten geredet hatten. Dass ich, statt auf einer Glückswelle zu schwimmen, durch einen Morast aus Unglück watete.
Nein, lieber nicht. Ich entschied, dass nichts davon für mütterliche Ohren geeignet war.
»Wie immer«, sagte ich.
Sie schob mir einen Teller mit bunt gefärbten Vitaminwürfeln hin. »Iss, du siehst so blass aus. Wirklich alles in Ordnung? Was macht dein Kopf? Es tut doch nicht weh?« Sie streckte die Hand nach meinem Pflaster aus, zog sie aber wieder zurück, als ich ihr schnell auswich.
»Etwas schwindelig.« Wenn ich einen Teil zugab, musste ich wenigstens den Rest nicht erzählen. »Kann mich schlecht konzentrieren. Für den Aufsatz hab ich bloß eine Vier bekommen und Moon eine Eins, dabei hatte ich fast dasselbe geschrieben wie sie.«
»Du sollst doch nicht abschreiben, Pia.« Meine Mam verdrehte die Augen, aber sie lächelte dabei. »Glaubst du, Gandhi merkt das nicht?«
»Aber wieso denkt er jedes Mal, dass Moon es verfasst hat und ich es bloß kopiere? Es könnte doch auch umgekehrt sein.«
Sie betrachtete mich liebevoll, so lange, bis ich begann, mich unbehaglich zu fühlen. »Du bist nicht dumm, Pi«, sagte sie, »nur …«
»Warum sagen mir das alle ständig?«, rief ich aus, sprang auf und stieß dabei den Stuhl um. »Nur um mir zu versichern, dass ich es nicht bin? Was soll das?«
Ich atmete tief durch. Was war das in mir? Wilde Gefühle? Aggressionen? Oder war ich bloß durcheinander? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich danach sehnte, so glücklich zu sein wie die anderen.
»Mama«, sagte ich, »werden sie … darf ich …«
»Was?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Was denn, meine liebe Pia?«
»Ich bin ein Einzelkind«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie in dieser Hinsicht etwas empfindlich war.
Sofort verblasste ihr Lächeln. »Nicht jedem sind zwei Kinder vergönnt. Es hat eben nicht sein sollen.«
»Dann ist es nicht, weil … weil ich ein Fehlschlag bin?«
»Wo denkst du hin?« Meine Mutter streichelte über mein stacheliges Haar und kniff mich in die Wange. »Was dir alles so einfällt, kaum zu glauben. Du bist genau
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