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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Pflastersteine. Aus dieser Höhe, das überlebt niemand.«
    Unser Lehrer ließ ihn nicht los. »Gerade deshalb bleibst du hier, klar?«
    Lucky riss sich mit Gewalt los. Er stieß den überraschten Gandhi zurück und stieg auf das Gerüst.
    Alles wie beim letzten Mal. Nur dass mein Herz heftig schlug, so schnell, als wollte es ihm nachfliegen. Mir war schwindelig, wie so häufig, und ich stützte mich an der Fensterbank ab, aber diesmal war es irgendwie anders. Meine Knie zitterten und in meiner Kehle saß ein merkwürdig bitter schmeckender Kloß.
    »Lucky«, flüsterte ich.
    Wir hörten ihn draußen den Kindern nacheilen.
    »Steigt hier rein«, rief er ihnen zu. »Hier ins Fenster. Nicht aufs Dach, ihr wisst doch gar nicht …«
    Aufgedrehtes Gelächter antwortete ihm.
    »Mach dir nicht in die Hose«, rief ein Junge frech. Ich konnte ihn von meinem Platz aus nicht sehen, aber ich hörte das Klirren der Metallleiter, als er weiter hochkletterte. Das ganze Gerüst begann auf einmal bedenklich zu schwanken.
    »Um Himmels willen«, flüsterte Gandhi, ohne zu merken, dass er einen verbotenen religiösen Ausdruck benutzte.
    »Das ist gewiss nicht erlaubt«, sagte Charity. »Dafür können ihre Eltern belangt werden. Darf ich heute die Julia spielen?«
    Lucky kam zurück, einen der Fünftklässler im Schlepptau. Er schubste ihn durchs Fenster in die Aula, wo Gandhi ihn entgegennahm.
    »Ich könnte Romeo sein«, sagte Merkur. »Oder willst du, Lucky?«
    Aber Lucky schüttelte den Kopf und tastete sich vorsichtig über das schmale Brett zur Leiter. Der Junge war verschwunden; er musste bereits auf dem Dach sein.
    »He!« Wir hörten alle Luckys kräftige Stimme. »Du! Warte. Weißt du nicht, wie gefährlich …«
    Er fiel. Wir sahen den Körper fallen. Wir alle.
    Einen Moment lang glaubte ich, es sei Lucky. Etwas Dunkles, das an uns vorbeistürzte, krachend gegen die Metallstangen schlug und aus unserem Blickfeld verschwand.
    »Nein!« Jemand schrie. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ich das war. »Nein, oh nein! Nein!«
    Dann erschien Lucky wieder am Fenster und kletterte herein, ohne etwas zu sagen. Er taumelte an uns vorbei zur Tür.
    »Also«, sagte Peace, »kann jetzt jemand das Fenster schließen? Ich würde auch gerne die Julia spielen. Mit Schalom. Machst du mit, Schalom?«
    Ich schlug die Hand vor den Mund und stürzte aus der Aula.
    Nein, ich lief nicht zur Toilette. Zuerst dachte ich, ich würde brechen müssen, aber während ich über den Flur hastete, schlugen meine Füße schon den Weg zur Treppe ein. Vor mir sprang Lucky die Stufen hinunter, immer mehrere auf einmal. Er merkte nicht, dass ich ihm folgte.
    Alle fünf Stockwerke hinunter. Durchs Foyer, durch die Türen bis nach draußen, um den Westflügel herum, und dorthin, wo zu Füßen des Gerüsts mitten zwischen den Gerätschaften der Arbeiter ein kleiner Körper lag, der da nicht hingehörte.
    Aus dem ersten Stock spähten unzählige Augen. Weiße Nasen drückten sich an den Scheiben platt. Jemand öffnete das Fenster, und eine Lehrerin rief: »Wir haben schon den Doktor alarmiert. Bleibt da weg!«
    Lucky hatte nicht die Absicht wegzubleiben. Er kniete sich hin und tastete den Jungen ab. Die linke Gesichtshälfte war dunkelrot vor Blut, es färbte Luckys Hemd und seine Hände. Etwas Weißes ragte aus dem hellen Arm; ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ein zersplitterter Knochen war.
    »Wie konntest du nur so dumm sein?«, stöhnte Lucky. »Das war gefährlich, verdammt, wie konntest du nur!« Er drückte das Kind an sich, sanft, aber so, als wäre dies auf irgendeine Weise sein eigenes Kind.
    »Ist er … tot?« Ein Mädchen schluchzte, mit einer hohen, schrillen Stimme. Diesmal war ich es wirklich nicht. Ich drehte mich um und sah die Kleine mit der Piepsstimme und den hellroten Locken, die immer nach mir und Lucky ihren Termin bei Dr. Händel hatte. Sie hatte die Hand vor den Mund geschlagen und wimmerte.
    Lucky winkte uns, still zu sein, und beugte sich noch tiefer über den Jungen.
    »Ich glaube, er atmet noch«, flüsterte er. »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Lass mich zu ihm!«, schrie das Mädchen, aber sie blieb stehen, als würde sie von unsichtbaren Händen festgehalten.
    Es war wie in einem Traum. Wir standen um den gestürzten Jungen herum, dessen Bein grotesk abgewinkelt war, dessen zersplitterter Arm an alles Mögliche erinnerte, nur nicht an einen Arm. Aus seiner Nase war Blut geflossen, die seinen Mund und sein

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