Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
Kinn in einen roten Bart hüllte. Obwohl die Schüler in der Klasse hinter uns laut durcheinanderriefen, kam es mir so still vor, dass es in den Ohren schmerzte.
    »Beweg ihn lieber nicht, Lucky«, sagte ich, da er keinerlei Anstalten machte, das Kind hinzulegen.
    »Nein«, stieß er hervor. »Nein, du begreifst nicht … Er stirbt hier – vor unseren Augen!«
    »Er stirbt?« Das Lockenkopfmädchen stieß ein merkwürdiges Geräusch aus, wie ich es noch nie gehört hatte. »Aber … das ist Phil. Das ist mein Bruder.«
    Doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Es war, als hätte sie verkündet, dass er nicht sterben durfte, weil er ihr Bruder war, und nun hatte sich die Welt danach zu richten.
    Mehr konnte sie nicht tun.
    Mehr konnte keiner von uns tun.
    Die Schwester des Verunglückten war diejenige, die getröstet werden musste, aber ich sah nur Luckys Schmerz. Ich kniete mich neben ihn auf die Pflastersteine und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    Er sah mich an, und vielleicht war da irgendetwas in meinem Gesicht, das ihn überzeugte – wovon auch immer.
    Er ließ den Jungen zurück auf die Steine gleiten. Ich half Lucky beim Aufstehen. Seine blutigen Hände waren klebrig; es war schwer, ihn zu fassen zu kriegen.
    Das Mädchen heulte immer noch, es hörte überhaupt nicht mehr auf.
    »Was macht ihr denn da?« Moon war uns nachgekommen. »Wieso rennt ihr einfach aus dem Unterricht?«
    »Er liegt im Sterben«, sagte Lucky dumpf. Ich merkte, dass ich immer noch seine Hände festhielt, aber ich konnte ihn jetzt nicht alleine stehenlassen. Nicht so. Nicht, während dieses Kind hinter uns auf dem Boden lag, mit dem abgeknickten Bein und den weißen Knochensplittern und all dem Blut.
    »Charity hatte einen Lachanfall, und jetzt spielt Peace die Julia«, sagte Moon. »Das wollt ihr doch nicht verpassen.«
    »Verstehst du denn nicht?«, keuchte Lucky. »Er stirbt! Der Junge stirbt gerade!«
    Moon starrte ihn verwundert an. »Kanntest du ihn?«
    »Nein, aber …«
    »Dann weiß ich nicht, warum du dich so aufregst. Es war gefährlich, und wir dürfen nicht auf dem Gerüst herumklettern, und jetzt ist er tot. Kommt ihr jetzt endlich mit, bevor wir alle eine schlechte Note kriegen?«
    Lucky rührte sich nicht von der Stelle.
    Ich konnte spüren, wie er zitterte.
    »Geh bitte, Moon«, brachte ich heraus. Meine eigene Stimme klang mir fremd in den Ohren. »Wir kommen nach. Sag Gandhi, wir kommen gleich. Lucky hat sich schmutzig gemacht.« Ich plapperte irgendetwas, nur damit sie endlich verschwand. »So können wir nicht zurück, und meine Hände und …«
    Sie nickte uns lächelnd zu. »Na, dann wascht euch, und dann kommt.«
    Wenn nicht das viele Blut gewesen wäre, sie hätte uns gepackt, jeder an einem Ärmel, und einfach wieder ins Schulgebäude gezerrt. So aber zog sie es vor, alleine in die Aula zurückzukehren.
    Wir standen immer noch da, schon als sie längst verschwunden war. Das Mädchen hatte sich auf die Knie fallen lassen.
    »Phil«, stöhnte sie, »du darfst nicht sterben, sie kommen gleich, um dir zu helfen, halte durch, bitte, halte durch …«
    Er sah aus, als wäre er schon tot. Vielleicht war er das auch längst, vielleicht hatte er seinen letzten Atemzug getan, ohne dass einer von uns es gemerkt hatte. Sie traute sich nicht, ihn anzufassen und zu überprüfen, ob er noch atmete oder ob sein Herz noch schlug. Sie streckte nur immer wieder die Hände aus und zog sie wieder zurück. Blickte weg und wandte Phil den Rücken zu, und dann drehte sie sich wieder um und starrte ihn an, minutenlang, endlos, als hätte sie die schwierige Aufgabe, sich jedes Detail einzuprägen.
    »Phil«, jammerte sie. »Oh nein, oh nein. Halte durch, du darfst nicht sterben, du darfst nicht.«
    Ich hätte ihr gerne meine Hand auf die Schulter gelegt, aber die war blutverschmiert. Ich hätte das Mädchen gerne getröstet, aber ich wusste nicht wie. Ich wusste nur, dass die Wolken um mich herum plötzlich schwarz waren. Und ich war in dieser Wolke wie von einem Wind umweht, der mich hin- und herschüttelte und gegen dessen Gewalt ich mich nicht wehren konnte. Und dann jagte ein Blitz durch die dunkle Gewitterwolke und tauchte alles in grelles, blendendes Licht.
    Halb ohnmächtig klammerte ich mich an Luckys Hand, an seine stumme, erstarrte Gestalt.
    »Es war nicht deine Schuld«, sagte ich.
    Er sah durch mich hindurch. »Das verstehst du nicht. Das kannst du nicht. Es ist …«
    »Doch«, widersprach ich. Ich wusste genau, was

Weitere Kostenlose Bücher