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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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er fühlte. Ich wusste, dass die Welt zerbrochen war, in diesem Moment, als der fremde Junge vom Gerüst gefallen war. Dass dieses Kind, das wir nicht kannten, wie ein Blitz war, der meine Wolke zerrissen hatte. Meine. Und seine. Es war, als wären wir plötzlich allein auf der Welt. Er. Und ich. Und dieses Mädchen, das heulte und klagte und schluchzte und jammerte, unaufhörlich. Sie umfasste ihre Oberarme und wiegte sich hin und her und weinte und weinte und weinte.
    Ich wusste nicht, wie ich jemals wieder die Treppe hinaufgehen sollte. Zurück in die Aula, wo Peace und Schalom Romeo und Julia spielten. Zurück unter Gandhis strengen Blick. Ich wusste gar nichts mehr, denn in diesem Moment hatte nichts eine Bedeutung.
    »Wie ist das passiert?«
    Das Lockenmädchen war aufgestanden und ein paar Schritte nähergekommen. Ihre Stimme war heiser vom Weinen. Ich hatte noch nie so ein hässliches menschliches Wesen gesehen, die Augen rot und verquollen, die Gesichtshaut fleckig. Ihre Nase lief. Unwillkürlich musste ich an Moon denken, wie sie so würdevoll um Jupiter getrauert hatte, still und erhaben in ihrer Trauer.
    »Was ist geschehen? Wart ihr dabei?«
    »Er ist oben auf dem Gerüst herumgeklettert«, sagte Lucky. Auch seine Stimme klang anders als sonst. Tiefer und irgendwie erwachsener. »Ich wollte ihn aufhalten. Ich bin durchs Fenster gestiegen, ich habe seinen Freund in unsere Aula gebracht. Aber dein Bruder war schon oben. Er wollte ganz hinauf, aufs Dach, und da oben ist gar kein Geländer, nichts zum Festhalten. Ich wollte, dass er runterkommt, die Bretter sind so schmal.« Leiser fügte er hinzu: »Sie sind viel zu schmal, weißt du.«
    »Ja«, sagte sie kaum hörbar.
    Ich legte Lucky die Hand auf den Arm. Später sah ich dort meinen eigenen dunkelroten Handabdruck. Komisch, ich hatte nicht gewusst, dass die Welt aus kleinen Details besteht, die nicht zusammenpassen. Wie ein Mosaik, das kein Bild ergibt. Luckys Gesicht. Meine Hand auf seiner Haut. Das fleckige Gesicht des Mädchens. Der sterbende Junge und das Blut auf den Steinen. Nichts davon passte zu diesem Sommertag. Ich erinnerte mich daran, dass wir unsere Bratlinge nicht aufgegessen hatten und dass ich einen Augenblick lang davon geträumt hatte, ich könnte die Julia spielen. Zusammen mit Lucky.
    Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich jemals irgendetwas spielen konnte, das mit Tod zu tun hatte.
    »Er heißt Phil?«, fragte er sanft. »Und du?«
    »Star«, sagte sie. »Ich heiße Star. Star Lichtl. Und das ist mein Bruder. Sie haben mir gesagt, dass mein Bruder hier liegt. Er darf nicht sterben, versteht ihr?«
    Nein, ich verstand es nicht. Ich hatte keinen Bruder. Es war nicht zu begreifen, dass man einen haben und dann wieder verlieren konnte.
    »Aus dem Weg.« Von irgendwoher kamen die Sanitäter mit einer Trage. Dr. Händel beugte sich über Phil. Auf einmal standen so viele Leute dazwischen, dass ich nichts mehr sehen konnte. Sie hoben ihn in den Krankenwagen.
    »Sieht nicht gut aus«, sagte jemand.
    Star wankte ihm nach – wollte sie mitfahren? –, und ich hielt sie fest. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, bevor ich mich daran erinnerte, dass sie blutverschmiert waren.
    »Bist du verletzt?« Jemand sprach Lucky an, dessen Hemd von dunkelroten Flecken übersät war. Er starrte den Sanitäter nur ausdruckslos an, der seine Frage jetzt an mich richtete. »Muss der auch mit?«
    »Nein«, sagte ich. »Wir wollten nur helfen.«
    »Geht rein in die Schule. Ihr habt hier nichts verloren.«
    Aber das stimmte nicht. Wir hatten hier etwas verloren, etwas unglaublich Wichtiges. Ich wusste nur nicht, was es war.
    Dr. Händel fuhr nicht mit. »Er wird jetzt ins Genesungshaus gebracht, bald erfahren wir mehr.« Er nickte uns zu. »Geht schon mal zum Sprechzimmer, ich komme gleich nach. Ich muss nur schnell den Bericht hier ausfüllen. Gleich gebe ich euch was zur Beruhigung, einen Moment noch.«
    Ich blickte dem Krankenwagen nach.
    Zum Arzt. Beruhigung. Das war genau das, was wir jetzt alle brauchten.

6.
    In den Gängen war es still. Während wir an den Türen der Klassenzimmer vorbeigingen, hörten wir das Gemurmel von dort drinnen, als wäre hinter jeder Tür eine andere Welt, die mit dieser hier nichts zu tun hatte.
    Lass den Glücksstrom nicht abreißen.
    Das Plakat über der Wartebank sprang mir ins Auge, fast hätte ich laut aufgelacht.
    Lucky setzte sich in die Mitte und stützte das Gesicht in die Hände. Ich drückte Star, die

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