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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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immer noch unkontrolliert zitterte, auf einen Stuhl und blieb selbst stehen. Ich konnte mich jetzt nicht hinsetzen, stattdessen wanderte ich vor der Tür des Sprechzimmers auf und ab.
    Die Welt hatte sich verändert. Eben noch war alles so normal gewesen, so wie immer. Doch jetzt …
    Da kam schon Dr. Händel mit raschen Schritten den Gang hinunter. Seine Schuhe quietschten so laut, dass er von Weitem zu hören war. Geschäftig ließ er seine Finger knacken, bevor er das Sprechzimmer aufschloss. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie viel Lärm er machte.
    »So, jetzt seid ihr dran. Was ist mit euch? Ist noch jemand gestürzt?«, fragte er und musterte uns scharf. »Lucky?«
    Lucky sah natürlich am schlimmsten aus, denn er hatte Phil auf dem Schoß gehalten.
    »Stars Bruder ist vom Gerüst gefallen«, sagte ich, da er nicht antwortete. »Das haben Sie ja gesehen.«
    »Du bist seine Schwester?« Dr. Händel richtete den Blick auf Star, die wie eine kleine, zerbrechliche Puppe auf dem Plastikstuhl hockte. »Na, dann komm mal. Ich gebe dir was für die Nerven. Wie lange ist deine letzte Welle her? War das nicht gerade erst vorhin? Ich werde euch allen Blut abnehmen und …«
    In meinem Kopf traf ein Gedanke ein.
    Fast hörbar machte es klick . Sofort fuhr ich auf und kämpfte gleichzeitig meine Aufregung nieder. Mein ganzer Körper kribbelte – so musste es sich anfühlen, Parasiten zu haben, Ameisen vielleicht, die einem die Beine hinaufkrabbelten.
    »Eigentlich brauchen wir nichts«, sagte ich. »Es geht uns gut. Wir waren bloß neugierig. Das kann man sich schließlich nicht entgehen lassen.«
    Lucky hob den Kopf und starrte mich an. Ich bemerkte es aus den Augenwinkeln, aber ich fixierte weiterhin Dr. Händel.
    »Wirklich, wir müssen uns nur umziehen und dann wieder in den Unterricht. Ich dachte, wir hätten ein paar Splitter vom Gerüst abbekommen, aber es ist nichts.«
    Dr. Händel zuckte die Achseln. »Und du, Star? Du fühlst dich gut?«
    »Natürlich tut sie das«, behauptete ich, während der Gedanke in meinem Hirn hin und her raste, auf der Suche nach einem Ausweg. Red dich raus … red euch alle da raus …
    »Tja«, sagte ich und lachte, »wann sieht man schon mal, wie jemand stirbt? Wir nehmen ja gerade in Geschichte Romeo und Julia durch. Das war eine gute Anschauung.« Ich kniete mich auf den Fußboden. »Oh Romeo, du bist tot, wie soll ich bloß weiterleben!« Hastig stand ich wieder auf, nachdem ich einen flüchtigen Blick auf Luckys verwirrtes Gesicht erhascht hatte. »Ich würde eine ganz gute Julia abgeben, nicht?« Ich probierte, albern zu kichern, was zwar misslang, aber da ich kein typisches albernes Kichern hatte, fiel dem guten Doktor nicht auf, wie falsch es klang. »Star übt auch schon.« Ich gab ihr einen kleinen Stoß. »Nicht wahr, meine Liebe? Sie bekommt die Rolle im nächsten Jahr«, teilte ich Dr. Händel vertraulich mit. »Dann, ähm, gehen wir jetzt, ja?«
    Ich schubste Star zur Tür, packte Lucky am Ärmel und zog ihn mit nach draußen.
    »Bis nächste Woche dann«, rief Dr. Händel uns noch nach. »Und wascht euch gründlich.«
    »Klar, machen wir«, versicherte ich.
    Die Tür schlug hinter uns zu.
    Wir standen auf dem Flur. Ohne Beruhigungsmittel. Ohne Blutuntersuchung.
    Gerade so entkommen.
    »Was war das gerade?«, fragte Lucky. Er zeigte auf Star. »Sie braucht was, siehst du das nicht? Sie bricht gleich zusammen.«
    »Mein Bruder darf nicht sterben«, sagte Star. Sie klang wie eine Schlafwandlerin, aber sie machte keinerlei Anstalten, bewusstlos zusammenzubrechen. »Was glaubst du, brauche ich wohl? Ich will meinen Bruder. Ich will keine Spritze, ich will zu Phil ins Genesungshaus!«
    Ich sah mich rasch um. Meine Gedanken fühlten sich an wie kleine, spitze Pfeile. Sie waren überall, so als könnte ich sogar mit den Zehen denken.
    »Was das war?«, fragte ich. »Wie blöd bist du, dass du das nicht merkst? Irgendwas ist mit unserer Welle schiefgegangen.«
    »Du spinnst. Wir haben sie ordnungsgemäß bekommen.«
    »Es ist anders. Alles ist anders. Die Farben werden klarer. Meine Fußsohlen fühlen den glatten Boden. Ich schwebe nicht, ich gehe … Merkst du es nicht? Die Wolke ist weg.«
    Er starrte mich an, verständnislos. War ich es denn allein? War ich die Einzige, die das wahrnahm, die wusste, dass die ganze Welt sich verwandelt hatte? Es war nicht der Unfall des Jungen. Es war das, was ich fühlte. Was ich dachte. Dass ich überhaupt in der Lage war, diese Gedanken zu

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