Wild (German Edition)
dachte wieder an das Messer und den toten Jäger. Wo war ich hier bloß gelandet?
»Für den Fall eines Angriffs haben wir einen neuen Treffpunkt, über den jeder Bescheid weiß. Ich hoffe sehr, dass noch genug Zelte übrig sind, damit wir alle unterkommen. Wir werden nah zusammenrücken müssen, das steht fest.« Er musterte mich kurz. »Ist der andere Flüchtling dein Freund? Der mit dem Sender?«
»Ein guter Freund, ja«, sagte ich. »Es war Orions Idee, Neustadt zu verlassen.«
»Also nicht dein Partner?« Gabriel schien über diese Information nachzudenken. »Wenn du nicht von ihm getrennt werden willst, solltest du das am besten für dich behalten.«
»Getrennt?« Mir konnte nichts Schlimmeres passieren, als von Orion getrennt zu werden. Mein Herz begann wild in meinem Brustkorb zu flattern.
»Wir verteilen die Neuzugänge auf die unvollständigen Familien. Je nach Bedarf. Paulus ist ziemlich streng, was das angeht. Aber wenn ihr ein Paar seid, wird er hoffentlich ein Einsehen haben.«
Gabriel war offenbar nicht besonders gut auf diesen Paulus, den gewählten Anführer der Wilden, zu sprechen.
»He«, sagte er etwas sanfter, »mach dir mal keine Gedanken. Erst erreichen wir das neue Lager, dann sehen wir weiter.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als brav hinter ihm herzutrotten. Das Gelände stieg leicht an. Ich musste um jeden Schritt kämpfen, und als wir endlich da waren, bekam ich es irgendwie nicht mit. Erst als jemand mir einen Becher an die Lippen hielt, merkte ich, dass ich zusammengesunken auf dem Boden lag.
Eine Frau hielt mich im Arm. »Wo hast du deinen Verstand gelassen, Gabriel?«, fuhr sie meinen Begleiter an. »Sie hat schon den Marsch aus Neustadt hinter sich.«
Sollten sie streiten. Ich konzentrierte mich lieber auf das köstliche Wasser, das kühl meine Kehle hinabrann, und verschluckte mich beinahe.
»Warte!« Ich streckte die Hände nach dem Becher aus, als sie ihn wieder wegnahm.
»Nein, das reicht erst mal. Alles der Reihe nach.«
Die Frau war etwas älter als meine Mutter, aber vielleicht sah sie auch nur so aus durch das Leben hier im Wald. Wir befanden uns vor einem kleinen Zelt, das gerade aufgebaut wurde. Ein paar Männer und Frauen zogen die Wände hoch und befestigten Seile an Metallhaken. Brandlöcher und ein strenger Geruch verrieten mir, dass dieses Zelt buchstäblich aus dem Feuer gerettet worden war. Ein merkwürdiger hoher Ton lag in der Luft, den ich nicht einordnen konnte und der in den Ohren schmerzte.
»Möchtest du reinkommen?«, fragte die Frau.
Ich folgte ihr durch die Eingangsplane in den kleinen, geschützten Raum, der die Wildnis draußen hielt. Das Zelt bot Platz für einige Schlafstellen auf dem Boden und ein paar verschnürte Säcke und Körbe in einer Ecke. Auf einer Matte saß ein dunkelhaariges Kind von vielleicht zehn Jahren, das die Arme um den Oberkörper geschlungen hatte und sich hin und her wiegte, wobei es in einem fort wimmerte. Ich fand das Geräusch unerträglich, aber die Frau ignorierte es einfach.
»Bestimmt hast du Hunger, Pia. Hier. Vergiss nicht, langsam zu essen.« Sie drückte mir etwas in die Hand, das Helms Brot ähnelte, aber um einiges besser schmeckte. »Da kannst du schlafen. Ich bin Ricarda. Und das ist übrigens Benni.« Der Kleine beachtete uns gar nicht, aber sie lächelte zufrieden. »Wir sind entkommen. Wir haben noch unser Zelt und die Sachen für den Winter. Und ein neues Mädchen. Manchmal ist das Glück eben doch auf unserer Seite. Allerdings … es sind nicht alle hier eingetroffen.«
»Was ist mit Orion?«, fragte ich erschrocken. »Auch ein Flüchtling, wie ich. Groß, schwarze Haare. Ist er auch hier?«
Ricarda sah mich an und schüttelte stumm den Kopf.
Nein, dachte ich. Nein, nein! Nicht Orion!
Wenn der Hubschrauber Bomben aufs Lager geworfen hatte … und Orion trug den Sender in der Haut. Wo immer er sich aufhielt, war das Ziel.
Ein Tumult draußen ließ uns beide zusammenfahren, Stimmen riefen laut durcheinander.
»Mein Gott, da ist was passiert!« Ricarda sprang auf und stürzte aus dem Zelt.
Ich stolperte ihr nach. Zwischen den Bäumen drängelten sich die Leute.
»Zurück!«, befahl jemand. »Lasst ihn durch.«
Ich schob mich zwischen ein paar aufgeregten Kindern hindurch – und da war er, mein Freund aus Neustadt, kaum erkennbar unter der Schicht aus Schmutz und Blut, die sein Gesicht bedeckte. In seinen Augen flackerte Unaussprechliches – Wahnsinn, Schmerz, Zorn. Doch auf den Armen
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