Wild (German Edition)
keine Klamotten in … Rot zum Beispiel?« Ein Wunder, dass sie ihre Haare nicht Ton in Ton mit ihrer faden Garderobe färbten.
Verständnislos schüttelte Jeska den Kopf. »Wie lange willst du denn in Rot überleben? Da kannst du dich auch gleich hinstellen und dir eine Zielscheibe vor die Stirn halten.«
Vor uns glänzte das Blau eines kleinen Sees. Weit und breit war niemand zu sehen, trotzdem wurde mir mulmig zumute. »Ich soll da rein? Ist das nicht, äh, schmutzig?«
»Nicht so schmutzig wie du.« Sie lachte mich an, und ich konnte nicht umhin, wenigstens einen Menschen hier in der Wildnis sympathisch zu finden. Das änderte sich jedoch gleich bei ihrem nächsten Satz. »Na los, zieh dich aus.«
»Wie bitte?«
»Wir haben nicht ewig Zeit. Paulus wird immer so schnell ungeduldig. Man muss halt alles schaffen, solange man noch lebt.«
Von der Logik dieser Äußerung noch etwas mitgenommen, lenkte ich behutsam auf ihre Aufforderung zurück. »Ich kann mich doch nicht einfach ausziehen und in den See springen!«
Das Ufer war mit langen grünen Halmen bewachsen. Schlamm quoll an den Seiten meiner Schuhe hoch. Die Bäume, die ihre dicken Äste über das Wasser hielten, boten Sichtschutz, genauso gut konnte sich aber auch jemand dahinter verstecken. Was fürchtete ich mehr? Dass mir jemand etwas wegguckte oder die unzähligen Krankheitskeime in dem ungefilterten Wasser?
»Wenn du dich so zierst, komme ich eben mit«, sagte Jeska und zog sich das lange Hemd bereits über den Kopf. »Schließlich sind wir jetzt Schwestern. Ich bin dreizehn, und du?«
»Schwestern?«, echote ich. Ich hätte wegschauen sollen, aber ich sah hin. Jede einzelne Rippe hob sich voneinander ab. Eine dicke, fleischige Narbe zog sich quer über ihren Bauch und lenkte den Blick von ihren winzigen Brüsten ab.
»Was ist?«, fragte sie. »Ach, das. Darüber spreche ich normalerweise nicht, weißt du. Aber ich schätze, dir kann ich es erzählen. Pia.« Sie fügte meinen Namen hinzu, als sei er ihre ureigene Entdeckung, etwas, das sie nach langer Suche verborgen im Wald gefunden hatte. »Das waren die Jäger. Sie haben mich erwischt, und der Doc hat mich wieder zusammengeflickt. Mir fehlt der halbe Darm oder so, deshalb nehme ich nicht zu. Nicht, dass du dachtest, wir würden hier verhungern.« Sie band ihre Hose auf, ließ sie einfach hinunterfallen, schleuderte sie von den Füßen und lief mit einem Quieken in den See hinein.
Ich folgte ihr nicht sofort. Einen Augenblick lang überwältigte mich alles. Jeskas Geschichte, die Narbe und ihr ausgemergelter Körper. Die Bäume, in deren Blättern der Wind rauschte. Das schmutzige Gras zu meinen Füßen. Jeska, ihr schmaler Rücken, die langen, dünnen Beine. Ihr strähniges blondes Haar. In Neustadt sah niemand so aus.
Und doch fand ich sie wunderschön, schöner als ich je einen Menschen gefunden hatte, außer Lucky. Vielleicht hatte ich auch noch nie darüber nachgedacht, was Schönheit war – die langen, dünnen Beine einer Dreizehnjährigen, ihre erhobenen Arme, während sie durchs Wasser stakste und sich dann ins Tiefe fallen ließ. Ein Muster lief über die Wasseroberfläche, Kreis um Kreis.
Ich hörte auf, mich zu schämen, mich zu fürchten. Streifte meine schmutzstarrenden Kleider ab. Das Wasser spielte kühl um meine Füße, ich zuckte zurück, dann nahm ich mir ein Herz und rannte in den See hinein, so wie Jeska es mir vorgemacht hatte, und schließlich, als das Wasser mir bis an die Hüfte ging, warf ich mich vorwärts. Es spritzte mir ins Gesicht. Und es war überhaupt nicht schmutzig, sondern klarer als das Wasser im Schulschwimmbad. Erst ein paar Meter unter mir wurde es dunkel, darüber wogten Wasserpflanzen, in denen ein Schwarm kleiner, silbriger Fischchen hin und her flitzte. Hastig schwamm ich von ihnen fort, dorthin, wo Jeska auf mich wartete.
»Du kannst ja tatsächlich schwimmen«, sagte sie. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
»Warum nicht? Wir haben Bäder in Neustadt.«
»Ihr habt doch solche Angst vor Krankheiten. Kann man sich da nicht an irgendwas anstecken?«
»Bei wem? Wir sind doch alle gesund, und das Wasser ist desinfiziert.«
»Trotzdem«, beharrte sie. »Ich dachte, ihr lauft mit Mundschutz rum. Mit Gesichtsmasken. In Ganzkörperschutzanzügen!«
Sie lachte wieder, sonst hätte ich vielleicht nicht gemerkt, dass sie mich auf den Arm nahm.
»Wie könnten wir sonst Sport machen?«, fragte ich. »In der Schule müssen wir das, für die
Weitere Kostenlose Bücher