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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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stürzte ein großer Vogel hervor, Federn stoben durch die Luft. Gabriel sprang aus dem Strauch, fast schneller, als ich zusehen konnte, und brachte den Mann im Anspringen zu Fall, obwohl dieser viel größer und kräftiger war. Aus anderen Büschen stürzten zu meiner Überraschung weitere Waldbewohner hervor und kamen ihm zur Hilfe – keinen von ihnen hätte ich in unserer Nähe vermutet. Unter dem Ansturm von zwei, drei, vier Angreifern ging der Mann mit der Waffe zu Boden, wobei er blindlings drauflos feuerte. Ich konnte nicht sehen, ob Gabriel sein Messer zum Einsatz brachte, doch der Kampf dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde wieder alles ruhig. Gabriels Freunde verständigten sich durch Zeichen, und alle schlichen wieder in ihre Verstecke zurück. Nein, nicht alle. Der Bewaffnete blieb reglos auf dem Bauch liegen, und auch eine weitere Gestalt stand nicht wieder auf. Hingestreckt ruhte sie zwischen den hohen Gräsern. Gabriel trug das Gewehr in der Hand, als er zu mir zurückkehrte und sich mit blassem Gesicht wieder unter die Zweige kauerte.
    »Was jetzt?«, flüsterte ich. »Ist es nicht vorbei?«
    Es kam mir komisch vor, dass niemand sich um die Toten kümmerte, fast so, als wäre ich wieder in Neustadt, wo es niemanden berührte, wenn jemand starb.
    »Wir wissen nicht, ob noch weitere Jäger in der Nähe sind«, flüsterte er zurück. »Falls ja, werden die Schüsse sie herlocken. Wir müssen bereit sein.« Er schaute mich prüfend an, als würde er mich zum ersten Mal richtig wahrnehmen, legte das Gewehr über das Knie und wartete.
    Die Sonne ging auf und malte goldene Streifen zwischen die Bäume. Das schwarze Loch in meinem Magen verursachte mir leichte Übelkeit, und zu meiner Trauer wegen Star und Lucky gesellte sich die Sorge um Orion. Am liebsten wäre ich ins Lager zurückgelaufen, um ihn zu suchen, aber ich wusste, dass ich den Weg ohne Hilfe nicht finden würde.
    Irgendwo im Wald knallten weitere Schüsse. Der Junge neben mir knirschte leise mit den Zähnen, seine Finger krallten sich um die Waffe. Ich spähte nach dunklen Gestalten aus, so gut ich konnte, lauschte angestrengt auf Schritte, doch alles blieb ruhig, nur die Vögel begannen ohrenbetäubend zu zwitschern, und ein merkwürdiges Schnarren ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Doch da Gabriel sich nicht davon beirren ließ, war es wohl harmlos.
    Das Wapp-wapp-wapp des Hubschraubers dagegen erkannte selbst ich, auch wenn ich vergeblich darauf wartete, dass er über den Baumwipfeln erschien. Stattdessen entfernte er sich in die andere Richtung.
    Jetzt erst trauten sich alle wieder aus ihren Verstecken. Eine junge Frau sank neben der zweiten Leiche auf die Knie und hielt sich die Hand vor den Mund. Wie eine Schlange ringelte sich ein langer dunkler Zopf über den Rücken der Toten, besetzt mit braunen Federn. Der erlegte Vogel hing in den Zweigen eines Strauches, aber die Federn lagen überall. Sogar an meinem Schuh klebte eine.
    »Deine Schwester kannte das Risiko, Lumina, so wie wir alle«, sagte ein Mann, ein hagerer Kerl von vielleicht dreißig Jahren. Er streckte die Hand aus, um ihre schulterlangen waldbraunen Haare zu berühren, und ließ sie wieder sinken.
    »Lass mich in Ruhe, Merton«, sagte sie ohne jedes Gefühl in der Stimme. Vermutlich wäre sie recht hübsch gewesen, zu einer anderen Zeit, in besserer Kleidung. Was für eine seltsame Erkenntnis, dass es unter den Wilden schöne Menschen gab – ganz ohne ärztliche Hilfe.
    »Davon darf Paulus nichts erfahren«, sagte Gabriel gepresst. »Ihr müsst Stillschweigen schwören.«
    Da die anderen nickten, tat ich es ihnen nach.
    Die junge Frau wischte sich über die Augen. »Dass du noch an uns zweifelst, Gab. Du hast den ersten Streich geführt, aber dieses Blut klebt an unser aller Händen. Sie«, Lumina zeigte auf mich, »ist der unsichere Faktor.«
    »Ihr habt die Jäger direkt ins Lager geführt!«, herrschte der Mann namens Merton mich an. Sein Zorn war wie ein Schwall kaltes Wasser, das er mir ins Gesicht schüttete. Ich schnappte nach Luft und wusste nichts zu sagen.
    »Sie kann nichts dafür«, mischte Lumina sich ein. Trotz des Verlusts ihrer Schwester war sie wenigstens nicht auf mich wütend. »Wie heißt du, Mädchen?«
    Der Name »Pi« lag mir auf der Zunge, aber ich zögerte damit, ihn auszusprechen. Pi war ich für Lucky, für meine Freunde. Wenn ich »Pi« hörte, war es mir, als hätte ich immer noch Luckys Stimme im Ohr, wie er mich rief, wie er mir

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