Wild (German Edition)
Gesundheit, selbst die Loserklasse.«
»Die Loserklasse? Ist ja witzig. Du bist in der Loserklasse?«
»Musst du das ständig wiederholen? Wenn du das noch einmal sagst …«, drohte ich.
Jeska hatte keine Angst vor mir, da konnte ich sie noch so grimmig anfunkeln. Sie klatschte ins Wasser, sodass mir alles in die Augen spritzte. Ich rächte mich, bis sie lachend floh.
Das kühle Wasser tat meinen geschundenen Knochen unendlich gut, trotzdem merkte ich bald, dass ich müde wurde, deshalb kehrte ich zu einer seichteren Stelle zurück. Meine Füße gruben sich in den weichen Grund. Jeska schwamm unter den Bäumen hindurch, wo riesige Blätter die Seeoberfläche bedeckten. Sie störte ein paar Vögel auf, die mit lautem Flügelschlag hochflatterten. Ich schrie erschrocken auf, dann besann ich mich wieder, wo und wer ich war. In der Wildnis. Unter den Wilden. In gewisser Weise gehörte dies alles mir – der See, die Bäume, die großen grünen Blätter, zwischen denen gelbe Blumen blühten. Die Fische, die an meinen Waden vorbeistrichen und mich dabei kitzelten. Heute war ich ein Teil dieser Welt, und ich sehnte mich danach, mit Lucky darüber zu sprechen. Siehst du, würde ich sagen, das ist hinter dem Zaun. Wer hätte das gedacht? Ein See, in dem man baden kann. Wasser, das nicht in den Augen brennt. Siehst du es? Fühlst du es?
Ich streckte die Hand aus, schloss die Augen und stellte mir vor, wie er seine Hand in meine legte. Ich konnte seine Finger um meine fühlen, ich konnte sein Lächeln sehen, während er sich umsah. Er war hier. Wie hätte es anders sein können? Lucky würde immer dort sein, wo ich war.
»Sieben wilde Schwäne«, sang Jeska. »Sie schwammen auf dem See, Frost und Eis verwandelten die Welt.«
»Was singst du denn da?«
»Sieben wilde Schwäne stiegen in den Himmel. Ließen Schnee und Eis und mich zurück.«
Alle Lieder in Neustadt hatten etwas mit Glück zu tun, mit der Sonne und unbeschwerten Sommertagen. Es gab, wenn ich es mir recht überlegte, überhaupt keine Lieder über den Winter. Und erst recht keine, die so traurig klangen wie dieses.
»Es ist eine Geschichte«, erklärte sie. »Von sieben Schwänen. Sie sind jeden Frühling gekommen, zum See, dort, wo ich bin. Das Ich ist natürlich das Ich in dem Lied.«
»Klar«, sagte ich.
»Aber einer der Schwäne möchte im Herbst nicht wegfliegen, er möchte bei mir bleiben. Die anderen sagen ihm, es ist dumm. Ich sage ihm, flieg. Und er fliegt und ist den ganzen Winter über fort.«
»Wie traurig.«
»Nein«, widersprach Jeska vehement. »Es kommt noch schlimmer. Im nächsten Jahr ist es wieder dasselbe. Schnee und Eis und weiß überfrorenes Schilf. Und er will bei mir bleiben. Seine Brüder warten auf ihn, warten, bis es nicht mehr anders geht. Dann fliegen sie doch, steigen in den Himmel auf. Aber er wartet zu lange. Das Eis umgibt ihn von allen Seiten, und er kann nicht mehr auffliegen und stirbt.«
»Und so was singst du?«, fragte ich.
Sie lächelte und sang weiter, und während sie sang, dachte ich an Lucky. Lucky, den ich im Stich gelassen hatte. Er war nicht hier, und alles Wünschen und Vorstellen und Träumen nützte nichts. Ich fühlte mich wie der Schwan, der weggeflogen war, zusammen mit seinen Gefährten. Und nun würde ich den ganzen Winter über fort sein …
»Warum weinst du?«, fragte Jeska leise.
»Ich weine gar nicht.« Ich tauchte mein Gesicht ins Wasser und hielt die Luft an. Die Welt im See war fremd, in ein seltsames grünliches Licht getaucht. Eine Welt der Stille, in die mein heller Körper hineinragte wie eine Porzellanstatue. Jeskas Gesicht erschien vor meinem, ihre Haare wehten um sie herum, ihre Augen schienen mir groß und dunkel. Sie lachte nicht. Ernst sah sie aus und fremd, doch als wir gemeinsam wieder auftauchten, prustete sie und spuckte und steckte mich mit ihrem hysterischen Gelächter an.
»Was ist eigentlich mit Benni los?«, fragte ich.
»Oh«, sagte sie, und etwas an ihrem Lächeln veränderte sich. »Benni. Du hast keinen guten Zeitpunkt erwischt, um ihn kennenzulernen.«
»Ist er sonst anders?«
»Ja«, antwortete sie. »Ist er. Normalerweise ist er ganz still. Dann glaubt man nicht, dass er überhaupt eine Stimme hat. Du musst dich einfach an ihn gewöhnen.«
Das hatte Ricarda mir auch schon gesagt.
»Er ist jetzt auch dein Bruder, weil Ricarda dich zugesprochen bekommen hat«, sagte Jeska. »Sie hat keine Kinder mehr, ihre ganze Familie … na ja, du weißt schon. Deshalb
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