Wilde Chrysantheme
unterhielten sich mit ernster Miene. Uber die reglos daliegende Frau traten sie hinweg, ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen, drängten sich an dem verkrüppelten Jungen vorbei und ignorierten seine mitleiderregenden Bitten, als er ihnen die Straße hinunter folgte. Bitten, die sich rasch in lästerliche Flüche verwandelten, als sie keine Anstalten zu ein wenig Barmherzigkeit machten.
Während das Kind, wütend vor sich hin schimpfend, wieder zu seinem Stammplatz beim Eingang der Buchhandlung zurückhumpelte, runzelte Juliana die Stirn. Irgend etwas an dem Jungen kam ihr merkwürdig vor. Sie starrte eifrig zu ihm hinüber und beugte sich weit aus dem Fenster, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. Dann sah sie es: Das Bein des Jungen war am Knie aufwärtsgebogen und mit Bindfaden an seiner Hüfte befestigt. Das Krüppeldasein stimmte also nicht. Aber es muß schrecklich unangenehm für ihn sein, den ganzen Tag mit einem abgeknickten Bein herumzuhumpeln, dachte sie, und Mitleid verdrängte augenblicklich ihre anfängliche Ablehnung dieses Schwindels. Vermutlich arbeitete er für einen Mann, der Kinder zum Betteln auf die Straße schickte und der sich diesen Trick hatte einfallen lassen. Vielleicht hatte der Junge noch Glück, daß er nicht dauerhaft verstümmelt worden war.
Schaudernd wandte sich Juliana vom Fenster ab, als sich die Tür unter einem Gewirr von aufgeregten Stimmen öffnete.
»Wie geht es Lucy, Juliana?« Rosamund, deren hübsches Gesicht ernst vor Besorgnis war, eilte als erste herbei. Die anderen folgten in einem fröhlichen Geflatter von dünnen, buntgemusterten Morgenmänteln und spitzenbesetzten Nachtkappen. Um diese Tageszeit waren sie noch im Neglige, wie sich Juliana von ihrer eigenen Zeit in diesem Hause her erinnerte. Erst kurz vor dem Dinner würden sie sich korrekt anziehen.
»Sie hat noch geschlafen, als ich gegangen bin«, gab sie Bescheid. »Aber ich habe den Eindruck, daß sie schnell wieder zu Kräften kommt. Henny kümmert sich um sie.« Auf der Armlehne eines brokatüberzogenen Sofas nahm sie Platz. »Seine Gnaden will ihr nicht erlauben, Besuch zu empfangen, weil sie noch viel Ruhe braucht«, erklärte sie taktvoll. »Deshalb werde ich als euer Mittelsmann fungieren.«
Zum Glück zog niemand diese höfliche Lüge in Zweifel, und Lilly beschrieb ausführlich die Reaktion der Dennisons auf Lucys Elend und die Bitte, sie bei sich aufzunehmen, sobald sie ihre Arbeit wieder antreten könnte.
»Mistress Dennison war so freundlich, uns zu erklären, daß sie es sich überlegen würden, da Lucy offenbar das Wohlwollen Seiner Gnaden genießt«, sagte Emma, die auf dem Sofa saß und vertrauensvoll Julianas Arm tätschelte.
»Was es doch für einen Unterschied macht, einen einflußreichen Gönner zu haben«, seufzte Rosamund und schüttelte heftig ihre Locken.
»Ich persönlich glaube nicht, daß es viel mit dem Herzog zu tun hat«, widersprach Lilly scharf. »Es ist ganz einfach so, daß Mistress Dennison ihre diebische Freude daran hat, Mutter Haddock einen Strich durch die Rechnung zu machen.«
Die anderen Mädchen schmunzelten über diese Bemerkung, dann hakte Lilly nach: »Was ist das für ein Plan, von dem du gesprochen hast, Juliana?«
»Ach ja.« Juliana öffnete und schloß nervös ihren Fächer. »Also, ich dachte, wenn wir uns alle zusammenschließen würden, könnten wir aufeinander aufpassen. Uns gegenseitig schützen, damit das, was mit Lucy passiert ist, sich nicht wiederholt.«
»Wie?« fragte ein Mädchen mit einem Wust dunkelbrauner Locken über der Stirn und einem spitzen Kinn.
»Wenn alle Frauen in den verschiedenen Häusern zustimmen würden, jede Woche einen kleinen Betrag von ihrem Verdienst beizusteuern, könnten wir einen Rettungsfonds einrichten. Wir könnten Schulden bezahlen, wie in Lucys Fall… und die Kaution stellen, wenn jemand im Schuldnergefängnis gelandet ist.«
Der Kreis der Gesichter betrachtete sie in skeptischem Schweigen. Dann sagte jemand in der Runde: »Das mag ja für
uns
hier gut und schön sein… und für die Mädchen in einigen der besseren Häuser. Aber die meisten anderen verdienen nicht genug, um Körper und Seele zusammenzuhalten, nachdem sie ihren Zuhälter für die Getränke und die Kerzen und die Kohlen und ein gutes Kleid und Bettwäsche bezahlt haben. Molly Higgins hat mir neulich erzählt, sie hätte letzte Woche mehr als fünf Pfund ausgegeben: Sie brauchte Wachskerzen für ihre Kunden und neue Bänder für
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