Wilde Chrysantheme
gegenüberliegenden Straßenseite stand und sie bespitzelte. Keiner bemerkte ihn, als er sich an ihre Fersen heftete und fast im Laufschritt hinter ihnen hereilte in seiner Hast, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Schweiß brach bei der Anstrengung auf seiner Stirn aus, sein Gehrock spannte sich über seinem Bauch, sein normalerweise schon ziemlich gerötetes Gesicht nahm eine fleckige, bläulichrote Färbung an.
Juliana wartete, bis sie um die Ecke gebogen waren und auf Piccadilly zusteuerten. Dann klopfte sie mit ihrem Fächer gegen das Sänftendach. »Ich habe es mir anders überlegt. Tragen Sie mich bitte in die Russell Street«, erklärte sie hochmütig.
Der erste Träger blickte ein wenig überrascht drein. Covent Garden war wohl kaum der geeignete Aufenthaltsort für Damen wie Lady Edgecombe. Aber er rief seinem Gefährten, der die hinteren Stangen trug, die Änderung zu, und sie schwenkten um in die neue Richtung.
George winkte eine Mietsänfte herbei und zwängte seine massige Gestalt auf den schmalen Sitz. »Folgen Sie dem Tragstuhl da vorn. Dem mit der Krone.«
Die Träger hievten die Stangen auf ihre muskulösen Schultern und nahmen die Last des beträchtlichen Gewichts ihres Kunden mit einer Grimasse auf sich. Dann machten sie sich auf die Jagd hinter der aufgemalten herzoglichen Krone her, wobei ihr Tempo beträchtlich langsamer als das ihrer Verfolgten war.
Juliana stieg vor der Tür des Dennisonschen Etablissements aus. Sie strich glättend über ihre Röcke und blickte an der Fassade des Hauses hinauf, das einst ihr Gefängnis gewesen war. Zuerst eine Zuflucht, dann ein Gefängnis. Sie konnte das Fenster ihrer kleinen Dachkammer im dritten Stock erkennen, wo sie nachts im Bett gelegen und auf die Geräusche gelauscht hatte, während die Hausbewohner ihrem Gewerbe nachgingen. Was wäre wohl aus ihr geworden, wenn der Wirt der »Glocke« nicht nach Elizabeth Dennison hätte schicken lassen? Sie wäre Tarquin, Herzog von Redmayne, niemals begegnet, soviel stand fest. Automatisch glitt ihre Hand zu ihrem Bauch. Trug sie vielleicht schon sein Kind unter dem Herzen?
Sie verdrängte den Gedanken kategorisch, als sie sich zu den Sänftenträgern umwandte. »Am besten warten Sie hier auf mich.«
Der Hauptträger tippte an seine Hutkrempe und rückte die Polster auf seinen Schultern zurecht, wo die Tragestangen geruht hatten. Sein Gefährte rannte die Stufen hinauf, um den Türklopfer zu betätigen. Juliana folgte ihm mit der gleichen hochmütigen Miene von zuvor, während sie ihnen schweigend zu verstehen gab, daß sie es nur ja nicht wagen sollten zu fragen, was sie wohl an einen solchen Ort verschlug.
Mr. Garston öffnete die Tür und sah für einen Moment völlig verdutzt aus. Dann verbeugte er sich so ehrerbietig, wie er sich vor Juliana Ridge nie verbeugt hatte. »Bitte treten Sie doch ein, Mylady.«
Juliana kam der Aufforderung nach. »Ich bin gekommen, um Miss Lilly und die anderen zu besuchen.« Sie klopfte sich mit ihrem geschlossenen Fächer in die Handfläche und sah sich ostentativ in der Halle um, als ließe die Einrichtung einiges zu wünschen übrig. Zu ihrer heimlichen Erleichterung schien Mr. Garston ein wenig eingeschüchtert, eine Spur unsicher, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Es war eine kleine Rache für sein Benehmen bei ihrer ersten Begegnung und den folgenden Malen, als er ihr unerbittlich den Weg zur Tür versperrt hatte.
»Würden Sie die Güte haben, im Salon zu warten, M'lady?« Er bewegte sich gemessenen Schrittes zu dem Raum, an den sie sich lebhaft erinnerte, und schwang die Doppeltür auf.
Der Salon war gesäubert und poliert worden, doch der Geruch nach Wein und Tabak und dem Parfüm der Mädchen vom vergangenen Abend hing noch immer in der Luft trotz der weit offenstehenden Fenster – eine ziemlich dekadente Mischung! Juliana wanderte zum Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Der helle Sonnenschein tat nur wenig, um die Härte und Trostlosigkeit der Szene zu mildern: Der einbeinige Junge, der auf einer Krücke humpelte und Passanten seine umgedrehte Kappe hinhielt, während er mit flehender Stimme um einen Penny bat; die Frau, die schlafend oder auch bewußtlos im Rinnstein lag, eine Flasche an die Brust gepreßt. Zwei Gentlemen kamen aus der Buchhandlung gegenüber im Haus Nummer acht. Sie wirkten wie Gelehrte in ihren langen Lockenperücken und den abgeschabten schwarzen Gehröcken. Beide trugen ledergebundene Bücher unter dem Arm, und sie
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