Wilde Chrysantheme
kraftlosen jungen Gentleman, der zufällig eine Vorliebe für Opern hatte – nicht, daß er bei der lautstarken Unterhaltung in der Loge seiner Mutter viel Gelegenheit gehabt hätte, die Musik zu genießen. »Begleite Lady Edgecombe hinaus, Cedric. Sie braucht dringend frische Luft.«
Widerstrebend löste sich der junge Mann von dem gefühlvollen Duett von Sopran und Tenor, das er liebend gerne gehört hätte. Er verbeugte sich und bot Juliana seinen Arm, die sich schwankend und mit einem erneuten kleinen Stöhnen auf die Füße erhob und sich eine Hand an die Stirn preßte.
Draußen auf den Stufen vor dem Opernhaus atmete sie in tiefen Zügen die schwüle Nachtluft ein und seufzte leidend. »Ich glaube wirklich, ich muß nach Hause fahren, Sir«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Wenn Sie so freundlich wären, mich bei Ihrer Frau Mutter zu entschuldigen und meinen Kutscher zu rufen, brauchen Sie keine Minute länger diese herrliche Musik zu entbehren.«
»Aber ich bitte Sie, Ma'am… es ist mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein«, stotterte Cedric, jedoch nicht sonderlich überzeugend. Er ließ Juliana auf der obersten Stufe stehen, rannte auf die Straße hinunter und schickte einen Lakaien los, um die Kutsche des Herzogs von Redmayne herzuholen. Innerhalb von fünf Minuten fuhr sie vor dem Gebäude vor. Juliana wurde hineingesetzt, der Kutscher angewiesen, so schnell wie möglich in die Albermarle Street heimzukehren, und Cedric hastete zurück in die Arme seiner Musik.
Juliana klopfte gegen das Dach der Kutsche, als das Gefährt im Begriff war, nach rechts in die Bond Street einzubiegen. Der Kutscher zog die Zügel an und beugte sich vom Kutschbock herunter.
»Bringen Sie mich statt dessen nach Covent Garden«, befahl Lady Edgecombe mit ihrer gebieterischsten Stimme. »Ich habe meinen Fächer heute morgen in einem der Kaffeehäuser liegenlassen. Wahrscheinlich ist er noch dort.«
Der Kutscher hatte keinen Grund, den Anweisungen ihrer Ladyschaft nicht zu gehorchen, und so setzte er sich wieder auf seinem Bock zurecht, lenkte die Pferde herum und fuhr nach Covent Garden. Juliana versuchte währenddessen, ihre Besorgnis zu beherrschen, in die sich eine seltsame Erregung mischte, als ob sie sich auf ein waghalsiges Abenteuer einließe. Sie hoffte, daß nicht nur die bessergestellten Kurtisanen, sondern auch einige der Straßenhuren zu dem Treffen kommen würden. Es dürfte ihnen keine Schwierigkeit bereiten, sich für eine Stunde von ihrer Arbeit freizumachen und in Cocksedges Taverne zu schlüpfen, wo Juliana sie davon zu überzeugen hoffte, daß die simple Investition von Vertrauen und Solidarität einen enormen Unterschied bei ihren Arbeitsbedingungen machen könnte. Ein paar der Mädchen aus den besseren Häusern würden zwar keine Gelegenheit haben, ihr Etablissement zu verlassen, um dem Treffen beizuwohnen, aber es gab genügend andere, die sich unter dem Vorwand, Kunden außerhalb des Hauses zu besuchen, davonstehlen könnten, und Lilly hatte entschieden, schon früh am Abend Krankheit vorzutäuschen, um aus der Russell Street zu entwischen.
Aber Juliana wußte, daß – mit oder ohne die Unterstützung ihrer Freundinnen – der Erfolg dieses ungewöhnlichen Plans von ihrer Überzeugungskraft, ihrer Energie und ihrem Engagement für die Sache abhing. Sie musste den Frauen ihre Vision nahebringen und ihnen begreiflich machen, daß sie sich verwirklichen ließ.
Als sie die St.-Paul's-Kirche erreichten, hämmerte sie erneut gegen das Dach der Kutsche. »Warten Sie hier auf mich«, wies sie den Kutscher an, als sie die Tür aufschwang und auf das Kopfsteinpflaster trat, wobei es ihr mit knapper Not gelang, einem Haufen verfaulender, schleimiger Kohlblätter auszuweichen, die nur darauf zu warten schienen, den Fuß eines Tolpatschs ausgleiten zu lassen. Juliana raffte ihre Röcke mit einer Hand und bahnte sich einen Weg durch die Marktabfälle zu Mutter Cocksedges Etablissement. Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht.
Lärm schallte ihr aus der offenen Tür des als Schokoladenstube getarnten Bordells entgegen, das von Mutter Cocksedge betrieben wurde. Betrunkene Stimmen, rauhes Gelächter, die schrillen Pfeiftöne eines Dudelsacks.
Juliana trat durch die Tür und blinzelte, während sich ihre Augen langsam an die trübe Beleuchtung gewöhnten. Der Anblick, der sich ihr bot, war ihr mittlerweile fast vertraut. Huren schwankten betrunken in diversen Stadien der Entkleidung durch den Raum, entweder auf
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