Wilde Rosen: Roman (German Edition)
ein guter Menschenkenner und ich weiß, jede von Ihnen hat einen erstklassigen Charakter.«
»Stimmt genau«, sagte May.
Keith streckte ihnen beinah flehentlich seine Papiere entgegen. »Also dann, hier.«
»Ähm, wäre es wohl möglich ...« Harriet bemühte sich um Festigkeit in ihrer Stimme, obwohl es ihr sehr schwerfiel weiterzusprechen. »Daß Sie uns für heute bezahlen? Ich bin gerade erst nach London gekommen, und ich muß für meine Unterkunft zahlen.«
Keith, den die Mädchen inzwischen nur noch »Schleimbeutel« nannten, sah sie versonnen an.
»Ich sehe nicht, was dagegen spricht. Sie haben gut gearbeitet, und gute Arbeit wird von mir gut bezahlt. Hier.« Er reichte jeder eine Zwanzigpfundnote.
»Aber das reicht nicht«, begann May.
»Das bringt Sie aber doch erst einmal weiter«, unterbrach er. »Nennen wir es eine Abschlagszahlung. Immerhin ist laut Vertrag vereinbart, daß ich Sie am Ende einer Arbeitswoche bezahle.«
»Ah ja?« fragte Sally verwundert und steckte ihr Geld ein.
»Tja dann, Mädels, soll ich euch zur U-Bahn mitnehmen?«
Sally fuhr mit Harriet und May zur Rose Revived zurück. Piers ging heute abend aus, also brauchte sie nicht nach Hause zu eilen, um für ihn zu kochen. Verwegen verschwendete sie einen Teil ihres Haushaltsgelds für eine Flasche Cidre, die sie zu den unterwegs erstandenen Fish and Chips tranken. Sie saßen im Salon des Bootes, wunderbar gemütlich nach dem eiskalten, leeren Haus, wo sie den ganzen Tag verbracht hatten.
»Ich bin kaputt«, verkündete May, während sie den Rest der Flasche auf die drei Gläser aufteilte. »Absolut fix und fertig.«
»Das war wirklich furchtbar«, sagte Sally. »Ich dachte, wir sollten hier und da ein paar Hinstellerchen abstauben, aber nicht den Ägäisstall, oder wie das heißt, ausmisten.«
»Woher weißt du so viel übers Putzen, Harriet?« wollte May wissen. »All diese technischen Details, zum Beispiel daß man Wände von unten nach oben abwäscht. Oder Natronlauge. Das war unglaublich.«
»Ich war dafür verantwortlich, das Haus meiner Großeltern in Ordnung zu halten. Nicht daß es da jemals wirklich dreckig wurde, aber gelegentlich schickte meine Großmutter mich zur Frau des Pastors. Sie putzte für die Frauen im Ort, die zu viele Kinder hatten und keine Zeit, sich um ihre Häuser zu kümmern.«
»Klingt sehr ungewöhnlich für eine Pastorenfrau«, bemerkte Sally. »Ich dachte, sie verbringen ihre ganze Zeit in irgendwelchen Komitees.«
»Sie ist auch ungewöhnlich. Sie gab den Müttern immer Geld, um mit den Kindern ins Kino zu gehen und Popcorn und Schokoladeneis zu kaufen. Dann brachte sie das Haus blitzschnell auf Vordermann, während Mutter und Kinder unterwegs waren. Mir hat sie auch geholfen ...« Harriet zögerte. »Vor allem, als ich Matthew bekam.«
»Matthew?« fragten May und Sally im Chor.
»Du hast ein Baby?« fügte Sally hinzu.
Harriet schüttelte den Kopf. »Er ist neun. Schon fast zehn.«
»Wo ist er denn?«
»Auf der Schule. Im Internat.«
»Wie schrecklich«, rief Sally.
May hob mißbilligend das Kinn. »Ich halte absolut nichts von Internaten.«
»Ich auch nicht«, sagte Harriet niedergeschlagen. »Meine Großeltern haben ihn hingeschickt.«
Jetzt hatte sie einmal angefangen, jetzt mußte sie auch von Matthew erzählen, dachte Harriet, und die eigentümlichen Umstände ihrer eigenen Kindheit erklären. Sie hatte lange mit niemandem reden können, daß es ihr vorkam wie eine Läuterung, May und Sally davon zu erzählen.
May hatte selber keinerlei Unterdrückung durch ihre Eltern erlitten, aber sie hatte es bei anderen gesehen. Ihre Miene entspannte sich wieder. »Deine Großeltern? Wieso?«
»Meine Mutter starb, als ich drei war. Sie war davongelaufen und hatte jemand ganz und gar Unpassenden geheiratet, sie hatten mich also noch nie gesehen. Sie nahmen mich auf und zogen mich groß. Aber das schlechte Blut ließ sich nicht verleugnen, oder so drückten sie es jedenfalls aus. Nach einem One-Night-Stand wurde ich schwanger. Ich hab’ lieber darauf verzichtet, sie darauf hinzuweisen, daß das wohl eher am Erbgut meiner Mutter, also ihrem Blut, lag. Na ja, jedenfalls ziehen sie jetzt Matthew groß.«
»Aber warum läßt du das zu? Warum ziehst du ihn nicht selber groß?« wollte May wissen.
Harriet sah sie an und fragte sich, ob sie May ihre ausweglose Lage begreiflich machen könnte. »Das ist nicht so einfach. Ich habe die Schule zu Ende gemacht bis zu den A-Levels, aber meine
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