Wilde Rosen: Roman (German Edition)
war natürlich durchaus möglich, daß Sally ein angeborenes Talent besaß, zuverlässige Knoten in tropfnasse Taue zu machen und sie dann über zu weit entfernte Poller zu werfen, aber irgendwie hielt Harriet das für unwahrscheinlich. Sie fürchtete, daß bis zum Sonntag abend keine mehr mit keiner ein Wort sprechen würde.
Sally saß auf einem zu dünnen Kissen am Boden und konnte das drückende Schweigen nicht länger ertragen. »Dieses Boot ist himmlisch für zwei ...«
»Und für drei erst recht«, warf May ein.
Sally hörte aufmerksam hin, um festzustellen, ob sich der erste sarkastische Unterton in Mays Stimme geschlichen hatte. Noch nicht, erkannte sie, aber bald. »Es ist einfach zu eng, und es gibt nur zwei bequeme Sitzgelegenheiten. Ich muß mir eine andere Bleibe suchen.«
Harriet und May brachten es nicht fertig, sich anzusehen, stimmten aber insgeheim aus ganzem Herzen zu. Doch sie wußten, wenn Sally eine normale Wohnungsmiete zahlen müßte, käme sie niemals mit dem aus, was sie verdiente.
»Das kannst du dir nicht leisten, Sal«, sagte May.
»Ich könnte bei der Verwaltung angeben, ich sei obdachlos. Dann würden sie mir eine Sozialwohnung geben.«
May schüttelte den Kopf. »Das würde höchstens klappen, wenn du schwanger wärst.«
»Oh. Das stell’ ich mir ziemlich schwierig vor.«
Harriet seufzte. »Ja.«
»Vielleicht sollte ich Sozialhilfe beantragen und Wohngeld und schwarz weiterarbeiten?« Diese Lösung reizte Sally ebensowenig wie die Vorstellung, schwanger zu sein, aber sie fühlte sich verpflichtet, sie vorzuschlagen.
»Nein«, widersprach May. »Du würdest dich in Teufels Küche bringen.«
Schweigen breitete sich wieder aus.
»Wenn wir ein Transportmittel hätten, könnten wir die unprofitable Zeit reduzieren, die dafür draufgeht, von einem Job zum nächsten zu kommen«, bemerkte May. »Dann könnten wir mehr Aufträge annehmen und mehr verdienen. Ich bin heute an der falschen Bushaltestelle ausgestiegen und mußte meilenweit laufen. Furchtbare Zeitverschwendung.«
»Also?« fragte Sally.
»Das Problem ist, daß wir so gut wie kein Kapital haben ...«
Harriet seufzte. Es war unrealistisch gewesen zu hoffen, May würde nicht von selbst zu dieser Erkenntnis kommen. Genau wie Sally sah sie sie gespannt an, als erwarteten sie, May habe schon eine Lösung parat.
»Wie wär’s mit Motorrädern?« fuhr May fort. »Wir könnten uns durch den Verkehr schlängeln, wie die Kuriere es tun. Sally würde hinreißend aussehen in Leder.«
»Möglich«, erwiderte Sally. »Aber ich werde in diesem Verkehrschaos auf kein Motorrad steigen, tut mir leid.«
»Nein«, sagte Harriet bestimmt. »Es hat keinen Sinn, ein Gefährt anzuschaffen, mit dem wir keine Ausrüstung transportieren können. Den Industriestaubsauger, zum Beispiel, wenn wir ihn irgendwann bekommen. Davon abgesehen bin ich auch nicht bereit, Motorrad zu fahren.«
May zuckte die Schultern. »Es war nur so ’ne Idee. Wir werden uns diesen Staubsauger auf lange Sicht noch nicht leisten können. Es wird schwierig genug, das Geld für Mike zusammenzukriegen.« Sie lächelte ironisch. »Aber ich glaub’ nicht, daß ich noch einen Untermieter aufnehme, ganz gleich, wie dringend wir das Geld brauchen.«
»Wenn wir ein bißchen aufräumen ...«, begann Harriet. »Dann kriegen wir vielleicht wenigstens die Illusion, wir hätten mehr Platz.« Sie hob mit einer Hand Mays Stiefel auf, mit der anderen einen Stapel von Sallys Zeitschriften. »Ich werd’ sehen, ob ich die hier irgendwo verstauen kann.«
In diesem Moment spürten sie, wie das Boot sich neigte, als jemand Schweres an Bord kam.
»O Gott! Wer ist das?« May ging in Gedanken die lange Liste ihrer männlichen Freunde durch, die gerne die ganze Nacht blieben und redeten. Wenn es einer von ihnen war, würde sie hart bleiben und ihn nicht über die Schwelle lassen.
Sally begann, alle möglichen Sachen unter Kissen zu stopfen, während sie Schritte auf dem Niedergang zum Welldeck hörten. Harriet verschwand mit Stiefeln und Zeitschriften im Schlafzimmer. Dann ging sie zurück in die Kombüse und setzte den Kessel auf. Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich verwundbar und mußte sich mit sinnlosen Tätigkeiten beschäftigen. Und außerdem, wenn es wirklich Leo sein sollte, wollte er bestimmt einen Kaffee. »O bitte, laß es nicht Leo sein«, betete sie und wischte wie wild mit einem ziemlich schmierigen Lappen über die kleine Arbeitsfläche. »Oder wenn er es ist,
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