Wilde Saat
geschieht, wenn sie sagen: ›Es sieht so aus, als wü r den zu viele Mitglieder de i nes Volkes sterben, Doro. Wir bleiben lieber da, wo wir sind, wo wir jetzt leben?‹«
Er erhob sich und ging zu der Tür, die in den angre n zenden Raum führte. Dort befanden sich, eing e baut in die Wand, zwei breite, längliche Nischen mit harten, aber ei n ladenden Lagerstätten aus Lehm. Er mußte sich hinlegen und schlafen. Trotz der Jugend und Robustheit des Kö r pers, den er trug, handelte es sich nur um den Körper eines normalen Mannes. Wenn er sorgsam damit umging – ihm den no t wendigen Schlaf und genügend Nahrung gab, ihn nicht überforderte und ihn vor Verletzungen bewahrte –, würde er ihn noch ein paar Wochen länger behalten kö n nen. Wenn er ihn jedoch zu Hoc h leistungen antrieb, wie er es getan hatte, um möglichst schnell zu Anyanwu zu ko m men, würde er ihn bald verschlissen haben. Er strec k te die Hände aus, die Handfl ä chen nach unten, und er sah, daß sie zitterten.
»Ich muß schlafen, Anyanwu. Wecke mich, sobald das E s sen fertig ist.«
»Warte!«
Die Schärfe in ihrer Stimme zwang ihn, stehenzu b leiben und zurückzublicken.
»Antworte!« forderte sie ihn auf. »Antworte mir auf meine Frage! Was geschieht, wenn Leute dir nicht folgen wo l len?«
War das alles, was sie von ihm wollte! Er schenkte ihr ke i ne Beachtung mehr, kletterte auf eine der Lagerstätten, legte sich auf die Schil f matte, die darauf ausgebreitet war, und schloß die Augen. Bevor ihn der Schlaf übermannte, glau b te er zu hören, wie sie den Raum betrat und wieder hinau s ging. Aber er kümmerte sich nicht darum. Schon vor langer Zeit hatte er die Erfahrung gemacht, daß die Leute eine viel größere Bereitschaft zur Zusammenarbeit zei g ten, wenn er sie die Antwort auf eine Frage, wie Anyanwu sie stellte, selbst finden ließ. Nur ein Dummkopf brauchte da r auf wirklich eine Antwort, und diese Frau war kein Dummkopf.
Als er erwachte, war das Haus vom Duft des Essens e r füllt. Rasch und voller Heißhunger stand er auf. Er kauerte sich ihr gegenüber auf den Boden, wusch sich in einer Schüssel, die sie im reichte, zerstreut die Hände. Er benut z te die Finger, um sich etwas von den gestampften Karto f feln zu nehmen und sie in die stark gepfeffe r te Soße zu tauchen, die in einer Schüssel vor ihm stand. Das Essen war reichlich und sätt i gend. Eine Zeitlang widmete er sich ganz dem Vorgang der Nahrungsaufnahme. Auch Anya n wu schenkte er keine Beachtung. Er nahm ledi g lich zur Kenntnis, daß sie ebenfalls mit Essen beschäftigt war und keine Neigung zu einem Gespräch zu haben schien. Vage erinnerte er sich daran, daß es eine kleine, religiöse Zer e monie zwischen der Waschung der Hände und dem Beginn der Mahlzeit geg e ben hatte, als er das letztemal bei ihrem Volk geweilt hatte. Eine Art Speise- und Palmweinopfer für die Götter. Nachdem er seinen ersten, quälenden Hu n ger gestillt hatte, e r kundigte er sich danach.
Sie blickte ihn an. »Welche Götter verehrst du?«
»Keine.«
»Und warum nicht?«
»Ich helfe mir selbst«, entgegnete er.
Sie nickte. »Das tust du auf wenigstens zwei Arten. Auch ich helfe mir selbst.«
Er lächelte kaum merklich und überlegte, wie schwer es sein mochte, sich eine Frau, die sich bereits seit dreihundert Jahren selbst half, gefügig zu machen. Würde es einer gr o ßen Anstre n gung bedürfen, sie zum Mitgehen zu bewegen? Sie hatte Söhne, und sie liebte sie, sorgte sich um sie. An dieser Stelle war sie verwundbar. Und es war auch mö g lich, daß er es einmal bedauerte, sie mitgenommen zu h a ben – vor allem deshalb, weil sie so wertvoll für ihn war, daß er sie nur im äußersten Notfall töten würde.
»Ich verehre die Götter nur wegen meines Volkes«, sa g te sie. »Ich war für sie die Stimme, der Mund der Gottheit. Was mich selbst betrifft, so …« Sie brach ab und schwieg eine Weile. Dann fuhr sie fort: »In meinem langen Leben bin ich zu der Einsicht g e kommen, daß der Mensch sein eigener Gott werden und sein Schicksal selbst in die Hände nehmen muß. Mißgeschick und U n heil kommen so oder so über ihn.«
»Du bist hier völlig fehl am Platz.«
Anyanwu stieß einen Seufzer aus. »Es ist immer wieder das gleiche. Ich bin zufrieden, fühle mich hier wohl. Inzw i schen hatte ich schon zehn Männer, denen ich gehorchen mußte. Weshalb sollte ich dich zu meinem elften machen? Weil du mich umbringen wirst, wenn ich mich weig e re? Freien die
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