Wilde Saat
die sich für zu klug und gelehrt halten, um an Geister zu gla u ben, sind nicht immun dagegen. Sprich mit fünfzehn Leuten, und weni g stens drei davon haben das gesehen, was sie für einen Geist halten. Oder sie kennen zumindest j e mand anderen, der Geister gesehen hat. Denice dagegen sah wirklich welche. Sie war ungewöhnlich sensitiv. Sie sah Dinge, die den Augen anderer ve r borgen blieben. Und weil das so war, erklärten die Leute sie für ver r ückt . Ich glaube, sie hatte eine Art von Übergang hinter sich.«
»Und das gab ihr einen Blick in die Zukunft?«
Anyanwu schüttelte den Kopf. »Du solltest weniger kr i tisch sein. Du bist doch selbst eine Art Geist. Was von dir ist denn tatsächlich zu berühren und anzufa s sen?«
»Das habe ich früher schon mal gehört!«
»Natürlich.« Sie machte eine Pause. »Ich werde mit dir über Denice reden, Doro. Ich werde mit dir über alle und jeden reden. Doch zuerst verrate mir, was du mit meinem Sohn vorhast!«
»Ich denke noch darüber nach. Ich denke auch über dich nach, über den möglichen Wert, den du für mich hast.« Wieder ruhte sein Blick auf dem Bild an der Wand. »Du hast recht. Ich kam her, um eine alte Rechnung zu begle i chen – um dich zu töten, um de i ne Kinder zu einer meiner Siedlungen mitzunehmen. Nie hat mir jemand so viel ang e tan wie du.«
»Ich bin vor dir geflohen und lebe noch. Auch andere haben das getan.«
»Aber nur weil ich beschlossen hatte, sie am Leben zu lassen. Eine Zeitlang wenigstens. Ihre Freiheit dauerte höchstens ein paar Tage, bevor ich sie wi e der gefaßt habe. Das weißt du!«
»Ja«, erwiderte sie zögernd.
»Nun, ein Jahrhundert ist verstrichen, nachdem du mir entwichen bist. Du bist gesund und wohlauf. Du begrüßt mich, als hätten wir uns gestern noch ges e hen. Du machst mir Konkurrenz und ziehst dir deine eigenen Hexen groß.«
»Von Konkurrenz kann keine Rede sein!«
»Nein? Weshalb hast du dich dann mit der Art von Menschen umgeben, nach denen ich auf der Suche bin. Warum hast du Kinder mit ihnen?«
»Sie brauchen mich … diese Menschen.« Anyanwu schluckte und dachte an das Schicksal ihrer Leute, an das, was sie durchgemacht hatten, bevor sie ihnen begegnet war. »Die Armen brauchten jemand, der ihnen hilft, und ich kann helfen. Du denkst nicht da r an, den Menschen zu helfen. Du gebrauchst sie für deine Zwecke. Aber ich kann helfen.«
»Warum solltest du?«
»Weil ich eine Heilerin bin, Doro.«
»Das ist keine Antwort. Du ziehst es vor, eine Heilerin zu sein. Doch was du wirklich bist, ist das, was die Leute in diesem Teil des Landes einen Werwolf nennen.«
»Ich stelle fest, du hast mit meinen Nachbarn gespr o chen.«
»Ja. Sie haben recht, und das weißt du.«
»Die Legenden erzählen, daß ein Werwolf tötet. Ich h a be nie getötet, außer in Notwehr. Ich bin eine He i lerin.«
»Die meisten Heiler haben keine Kinder mit ihren P a tienten.«
»Die meisten Heiler tun, was ihnen gefällt. Meine Kra n ken gleichen mir mehr als alle anderen Me n schen. Weshalb sollte ich unter ihnen nicht auch einmal einen Partner fi n den?«
Doro lächelte. »Es gibt auf alles eine Antwort, nicht wahr? Doch was soll’s. Erzähle mir von Denice und ihren Gei s tern!«
Anyanwu holte tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus, um sich zur Ruhe zu zwingen. »Denice sah das, was Menschen zurücklassen. Sie betrat ein Haus und sah die Menschen, die es einmal bewohnt hatten. Sie erlebte in aller Deutlichkeit mit, wenn jemand darin gelitten hatte oder gestorben war. Es erschreckte sie. Es konnte gesch e hen, daß sie in ein Haus ging und ein Kind sah, dessen Kleider in Flammen standen und das in höchster Angst d a vo n lief. Aber es war kein Kind da. Ich erfuhr dann, daß zehn oder zwanzig Jahre zuvor in diesem Haus ta t sächlich ein Kind bei lebendigem Leib verbrannt war. Denice sah Leute, die irgendwo Dinge stahlen, Tage oder Jahre zuvor. Sie sah Sklaven, die gefoltert wurden, Sklavinnen, denen ein Weißer Gewalt antat, Menschen, die von der Malaria oder den Pocken dahingerafft wurden. Sie fühlte diese Dinge nicht wie deine Leute während des Übergangs. Sie sah sie nur. Doch sie wußte nie, ob es sich um Ereignisse hande l te, die zu derselben Zeit passierten, in der sie sie sah, oder ob sie in der Vergangenheit lagen. Und so wu r de sie langsam wahnsinnig. Als ihre Eltern eine Gesellschaft g a ben, wurde ich dazu eingeladen. Ich war jung, reich und gutaussehend – wohl keine schlechte Partie
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