Wilde Saat
brauchte eine Familie um sich, ein Volk. Sie konnte und wollte natürlich nicht verhindern, daß diese Menschen einander heirateten und ihre Kinder b e stimmte Begabungen zei g ten, die über die Begabungen ihrer Eltern weit h i nausgingen. Mgbada hatte einmal zu ihr gesagt, sie versammle Menschen um sich, die wie seine Großeltern seien. Oder noch deutlicher: sie sei dabei, H e xen zu züchten.
Eine alte Frau trat zu Anyanwu – eine Weiße, grau und verwittert. Luisa, die sich ihren Lebensunterhalt mit Nähen verdiente. Sie war eine der fünf Weißen auf der Plantage. Anyanwu hätte auch noch mehr Weiße in ihrer Gemei n schaft aufgenommen, doch die Gesellschaft der damaligen Zeit war äußerst ra s senbewußt und duldete es nicht, daß Weiße mit Schwarzen auf der gleichen sozialen Stufe le b ten. Die vier anderen Weißen, die jünger waren als Luisa, versuchten der Gefahr, in der sie schwebten, dadurch zu entgehen, daß sie sich als Mischlinge ausgaben. Luisa war eine Kreolin, Abkömmling eines französ i schen und eines mexikanischen Elternteils, und zu alt, um sich noch um den herrschenden Rassenhaß zu kümmern.
»Gibt es Ärger?« fragte Luisa.
Anyanwu nickte.
»Stephen sagte, er, sei da – Doro, der Mann, von dem du uns erzählt hast.«
»Geh, und sag den anderen, daß sie auf den Feldern bleiben, bis ich sie rufe.«
Luisa starrte sie durchdringend an. »Und was ist, wenn er uns ruft – mit deinem Mund?«
»Dann muß jeder für sich selbst entscheiden, ob er d a vonlaufen will oder nicht. Alle wissen Bescheid über ihn. Wenn sie jetzt schon fort wollen, sollen sie sich nicht au f halten lassen. Später, wenn der schwa r ze Hund wieder in den Wäldern gesehen wird, können sie zurückkehren.« Wenn Doro sie tötete, würde er nicht imstande sein, ihre Fähigkeiten des Heilens und der Gestaltverwandlung zu benutzen. Sie wußte das aus ihrer Zeit in Wheatley. Er konnte sich den Körper eines anderen aneignen und ihn zur Kinderzeugung benutzen. Aber er konnte auch nur den Körper benutzen. Als er damals Thomas übernahm, hatte er damit nicht dessen Fähigkeit des Gedankenlesens übe r nommen. Anyanwu hatte nie die Erfa h rung gemacht, daß er auch nur ein einziges Mal die außergewöhnlichen F ä higkeiten eines Kö r pers, den er trug, benutzt hätte.
Die alte Frau faßte Anyanwu bei den Schultern und zog sie an sich. »Was wirst du tun?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich habe ihn nie gesehen und hasse ihn.«
»Geh!« drängte Anyanwu.
Luisa eilte davon. Sie war für ihr Alter noch sehr rüstig. Wie Anyanwus Kinder hatte sie ein langes, gesundes L e ben gelebt. Cholera, Malaria, Gelbfieber, Thyphus und a n dere Krankheiten, die das Land heimgesucht hatten, waren an Anyanwus Leuten fast spurlos vorübergegangen. Wenn sie von einer Krankheit befallen wurden, weckte Anyanwu ihre Abwehrkräfte, und sie erholten sich sehr schnell d a von. Wenn sie sich verletzten, war Anyanwu zur Stelle und versorgte ihre Wunden.
Als Luisa zwischen den Bäumen verschwunden war, kam Doro aus dem Haus. »Ich könnte ihr folgen«, sagte er. »Ich weiß, du hast die Alte zu deinen Feldarbeitern g e schickt, um sie zu warnen.«
Anyanwu drehte sich zu ihm um und blickte ihn zo r nig an. »Du bist so viele Jahre älter als ich. Du mußt einen G e burtsschaden haben, der es verhindert, aus deinen Erfa h rungen ein wenig Weisheit zu lernen!«
»Wirst du dich vielleicht dazu herablassen, mir zu erkl ä ren, von welcher Art die Weisheit ist, die du mitbekommen hast?« Die Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überh ö ren. Anyanwu fing an, ihn zu verunsichern, und die Phase des Umwerbens war zu Ende. Das war gut so. Wie dumm von ihm, anz u nehmen, sie ließe sich von ihm noch einmal umgarnen. Wenn, dann war höchstens sie es, die ihn u m garnte und in ihren Netzen fing.
»Du warst glücklich, mich wiedergefunden zu haben, nicht wahr?« sagte sie. »Ich glaube, du warst selbst übe r rascht bei der Feststellung, wie glücklich du warst.«
»Sag, was du zu sagen hast, Anyanwu!«
Sie zuckte die Schultern. »Isaak hatte recht!«
Schweigen. Sie wußte, Isaak hatte oft mit ihm darüber gesprochen. Isaaks größter Wunsch war es gew e sen, daß die beiden Menschen, die er am meisten liebte, wieder z u einanderfanden. Wie stand Doro zu diesem Wunsch seines Sohnes? Bedeutete er ihm etwas? Nicht am Anfang – aber später – und vor a l lem jetzt. Doro war froh gewesen, sie wiederzus e hen. Er hatte sich beglückt
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