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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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kam auf sie zu, und Anyanwu war sich bewußt, daß es mit Stephen zusammenhing. Sie wollte Doro fr a gen, was es sei. Doch wenn sie das tat, würde er es ihr sagen, und damit würde sie gezwungen sein, eine Möglichkeit zu finden, sich ihm zu widersetzen. Und falls sie sich ihm widersetzte, würde sie den kürzeren ziehen. Er würde sie töten.
    »Er bedeutet das für mich, was Isaak dir bedeutet hat«, flüsterte sie. Würde er die Worte als das ve r stehen, was sie waren: ein Bitte um Erbarmen?
    Er starrte sie an, als habe sie etwas Unbegreifliches g e sagt und als versuche er, den Sinn ihrer Worte zu ergrü n den. Schließlich lächelte er, ein kleines, ungewohntes und zaghaftes Lächeln. »Hast du jemals verstehen können, welch eine lange Zeit hundert oder hundertfünfzig Jahre für einen normalen Me n schen sein können, Anyanwu?«
    Sie zuckte die Schultern. Unsinn! Er redete Unsinn, während sie darauf wartete, daß er ihr seine En t scheidung über das Leben ihres Sohnes mitteilte.
    »Wie sind die Jahre für dich?« fragte er. »Wie Tage? Wie Monate? Was fühlst du, wenn dir nahestehende Me n schen plötzlich alt und grau, verblüht und unfruchtbar sind?«
    Wieder zuckte sie die Schultern. »Die Menschen werden nun einmal alt und sterben.«
    »Ja, alle«, sagte er. »Alle, außer dir und mir.«
    »Du stirbst unaufhörlich«, sagte sie.
    Er stand auf und setzte sich neben sie auf das Sofa. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und fortzulaufen. »Ich bin noch nie gesto r ben«, widersprach er ihr.
    Sie blickte an ihm vorbei zu dem Kerzenleuchter auf dem Kaminsims. »Ja«, erwiderte sie. »Ich hätte sagen so l len, du tötest unaufhörlich.«
    Er schwieg. Sie sah ihn an, schaute in seine Augen, die groß, weit auseinanderstehend und braun waren. Er besaß die Augen eines viel größeren Mannes – vielmehr sein g e genwärtiger Körper besaß diese A u gen. Sie verliehen ihm den trügerischen Ausdruck von Sanftheit und Milde.
    »Bist du hergekommen, um zu töten?« fragte sie. »Bin ich an der Reihe, zu sterben? Hast du vor, aus meinen Ki n dern Zuchtstuten und Zuchthengste zu machen? Ist das der Grund, weshalb du mich nicht in Frieden lassen kannst?«
    »Weshalb willst du in Frieden gelassen werden?« wollte er wissen.
    Sie schloß die Augen. »Doro, sage mir, was geschehen wird!«
    »Vielleicht überhaupt nichts. Vielleicht werde ich de i nem Sohn eine Frau bringen.«
    »Eine Frau?« sagte sie ungläubig. »Nur eine?«
    »Eine Frau für diesen Platz hier, so wie bei dir und Isaak. Kein einziges Mal habe ich ihm andere Frauen nach Wheatley gebracht.«
    Das stimmte. Von Zeit zu Zeit hatte er Isaak mit auf Reisen genommen, aber er hatte nie eine Frau für ihn nach Whea t ley gebracht. Anyanwu wußte, daß der Ehemann, den sie am meisten geliebt hatte, Dutzende von Kindern mit and e ren Frauen gezeugt hatte.
    »Kümmerst du dich eigentlich nicht um sie?« hatte sie Isaak einmal gefragt in dem Wunsch, ihn zu ve r stehen. Sie selbst sorgte sich um jedes ihrer Kinder, und sie erzog j e des einzelne, das sie geboren hatte, und liebte sie.
    »Ich habe noch nie eins von ihnen gesehen«, hatte er geantwortet. »Sie sind seine Kinder. Ich zeuge sie in se i nem Namen. Er sorgt dafür, daß es ihnen und ihren Mü t tern an nichts fehlt.«
    »Das behauptet er wenigstens.« Sie war verbittert gew e sen an jenem Tag. Sie war wütend auf Doro, der sie g e schwängert hatte, obwohl das jüngste Kind, das sie mit Isaak besaß, noch kein Jahr alt war. W ü tend auf ihn, weil er danach ein großes, gutaussehendes Mädchen, das Anyanwu gekannt und gemocht hatte, getötet hatte. Das Mädchen mußte geahnt haben, was mit ihm geschehen würde, und de n noch hatte sie Doro wie ihren Liebhaber behandelt und nicht wie ihren Mörder. Es war abscheulich g e wesen!
    »Hast du jemals gesehen, daß er die Kinder vernachlä s sigt, als deren Vater er sich ausgibt?« hatte Isaak sie g e fragt. »Hast du jemals festgestellt, daß er seine Leute ohne Mittel läßt – daß sie hungern müssen? Er sorgt für das, was ihm gehört!«
    Sie hatte Isaak alleingelassen. Stundenlang flog sie als Vogel über das weite, menschenleere Land unter ihr. Und sie fragte sich, ob es denn nirgendwo in der Unermeßlic h keit dieser Wälder, in den zahllosen Windungen der Flüsse, den Labyrinthen der Canyons und den Buchten der Seen ein Versteck für sie gab – einen Platz, wo sie Frieden und La u terkeit finden

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