Wilde Saat
andersartig. In dem Moment, als er zu mir sprach, war er geistig völlig klar. Er hörte meine Gedanken. Eine lange Reihe von Sklaven b e wegte sich an mir vorbei. Sie gingen gebeugt unter der Last der Ketten, mit denen sie aneinandergeschmiedet waren, aber ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich dachte: Du brauchst unbedingt wieder etwas von dem im Meer versu n kenen Goldschatz, und du mußt dich unverzüglich mit de i nem Anwalt wegen des zum Verkauf st e henden Landes in Verbindung setzen, das an deine Plantage a n grenzt. Und du mußt dir einige Bücher besorgen – medizin i sche Handbücher –, d a mit du auf dem laufenden bist über das, was die ärztliche Wissenschaft an neuen E r kenntnissen gewonnen hat. Stell dir vor: das war es, was mich beschäftigte. Ich bemerkte die Sklaven gar nicht, die an mir vorbe i zogen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ich einmal so sein könnte. Aber ich war zu lange ein Weißer gewesen, und ich brauchte jema n den, der mir das sagte, was er mir sagte.«
»Und du nahmst ihn mit nach Hause und schenktest ihm einen Sohn.«
»Ich würde ihm viele Söhne geschenkt haben. Sein Geist schien sich langsam zu erholen von dem, was sie ihm auf dem Schiff angetan hatten. Zum Schluß war er fast völlig wiederhergestellt. Er war mir dann ein guter Ehemann. Aber er lebte nicht lange.«
»An welcher Krankheit starb er?«
»Ich weiß es nicht. Es gelang mir nicht, es herauszufi n den. Er sah seinen Sohn an und sagte glücklich: ›Ifeyinwa – was ist so wunderbar wie ein Kind!‹ Ich nannte Stephen so mit seinem anderem Namen: Ifeyinwa. Dann starb Mgbada. Manchmal bin ich eine sehr schlechte Heilerin, und mac h mal versage ich ganz und gar.«
»Zweifellos lebte der Mann viel länger und besser, als es ohne dich der Fall gewesen wäre.«
»Er war noch jung«, sagte Anyanwu. »Und wenn ich die Heilerin wäre, die ich sein möchte, würde er b e stimmt noch leben.«
»Welche Art von Heiler ist der Junge?«
»In mancher Beziehung ist er nicht so begabt wie ich. Er ist langsamer. Aber er besitzt etwas von der Sensivität se i nes Vaters. Hast du dich gefragt, wieso er dich erkannt hat?«
»Nein. Ich dachte, du habest mich erkannt und ihn g e warnt.«
»Ich habe ihm von dir erzählt. Vielleicht erkannte er dich an deiner Stimme, die er sich einprägte, wenn er me i ne Gedanken hörte. Ich habe ihn nie danach g e fragt, was er hört. Nein, nein, ich habe dich nicht bemerkt, bevor du mit deinem Pferd vor dem Haus standest.« Glaubte er wirklich, sie wäre geblieben, wenn sie seine Ankunft bemerkt hätte? Glaubte er, daß sie ihre Kinder nicht vor ihm in Sicherheit gebracht hätte? Glaubte er, sie wäre mit den Jahren verbl ö det? »Stephen vermag es, in die Gefühle der Menschen einzudringen und zu erkennen, was mit ihnen nicht stimmt«, fuhr sie fort. »Wenn er sagt, daß etwas nicht in Ordnung ist, kann man sicher sein, daß er die Wahrheit spricht. Doch es kommt immer noch vor, daß er sich vertut – was mir niemals passiert.«
»Er ist noch jung«, sagte Doro.
Anyanwu zuckte die Achseln.
»Wird er jemals altern, Anyanwu?«
»Ich weiß es nicht.« Sie stockte. Ihre Stimme sank zu einem Flüstern hinab, als sie das aussprach, was sie erhof f te. »Vielleicht habe ich endlich einen Sohn geboren, den ich nicht begraben muß.« Sie blickte auf, sah, daß Doro sie angespannt beobachtete. E t was Gieriges, Hungriges lag in seinem Blick, das er rasch zu unterdrücken suchte.
»Hat er die Fähigkeit des Gedankenlesens unter Kontro l le?« fragte er mit unverfänglicher Stimme.
»Darin ist er das Gegenteil seines Vaters. Mgbada war nicht imstande, sein Hören zu kontrollieren – so wenig, wie Thomas es konnte. Das war der Grund, weshalb seine Le u te ihn in die Sklaverei verkauften. In ihren Augen war er ein Hexenmeister. Stephen dagegen muß sich zwingen, wenn er die Gedanken anderer Menschen hören will. Seit seinem Übergang hat er nie einen Rückschlag erlebt. Alle r dings ist es vorgekommen, daß er eine Verbindung zu a n deren Menschen herstellen wollte, und nichts geschah. Er sagt, es sei so, als wisse er nicht, wann er mit Taubheit g e schlagen ist.«
»Das ist ein Defekt, den man tolerieren kann«, erklärte Doro. »Mag sein, daß er manchmal nicht in Form ist. J e denfalls wird es nie geschehen, daß er unter dem Gewicht fremder Gedanken und Gefühle zusammenbricht.«
»Das habe ich ihm auch gesagt.«
Ein langes Schweigen breitete sich aus. Irgend etwas
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