Wilde Saat
verkaufte sich an Männer, um wenigstens genug zum Essen zu haben. Als Anyanwu sie fand, war Iye mit ihrer Kraft am Ende gew e sen und entschlossen, sich und ihren Kindern mit dem ro s tigen Messer i h res Mannes die Kehle durchzuschneiden.
Anyanwu hatte ihr ein Heim und neuen Lebensmut g e geben. Und Stephen hatte ihr – als er alt genug war – etwas a n deres gegeben. Luisa erinnerte sich, wie Anyanwu den Kopf geschüttelt hatte. »Sie stellt sich an wie eine läufige Hündin«, hatte sie gesagt. »Wenn man sieht, wie verrückt sie auf ihn ist, sollte man nicht glauben, daß sie seine Mu t ter sein kön n te.«
Luisa hatte gelacht. »Du solltest dich sehen, Anyanwu, wenn du einen Mann gefunden hast, der dein Gefallen e r regt.«
»So bin ich nicht«, hatte Anyanwu unwillig gean t wortet.
»Natürlich nicht. Du bist sehr viel besser und sehr viel älter als sie.«
Und Anyanwu hatte ihren Groll vergessen und war in ein fröhliches Lachen ausgebrochen. »Jedenfalls kann ihm eine solche Erfahrung nicht schaden. Vie l leicht wird er durch sie einmal ein besserer Eh e mann, als er es ohne sie werden würde.«
»Oder er wird dich eines Tages damit überraschen, daß er sie heiratet«, hatte Luisa erwidert. »Trotz des Altersu n terschiedes passen die beiden erstaunlich gut zusammen. Sie ist wie er. Sie hat etwas von dem, was auch er hat, e t was von seiner Macht. Sie kann diese Macht zwar nicht benu t zen, aber sie ist da. Ich kann es in ihr spüren – vor allem dann, wenn sie so verrückt nach ihm ist.«
Anyanwu hatte Luisas Worte nicht beachtet. Sie zog es vor, zu glauben, daß ihr Sohn letzten Endes einmal eine sta n desgemäße Ehe eingehen würde. Luisa wußte nicht, ob Anyanwu etwas von dem Kind wu ß te, das Iye erwartete. Man sah ihr äußerlich noch nichts an, aber Iye hatte es Luisa e r zählt. Zu Anyanwu würde sie nie darüber gesprochen h a ben.
Anyanwu näherte sich dem Toten, beugte sich nieder, um das kalte Fleisch zu berühren. Iye wollte sich zurüc k ziehen, doch Anyanwu ergriff ihre Hand. »Wir trauern be i de um ihn«, sagte sie leise.
Iye schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte ve r zweifelt. Es war ihr jüngstes Kind, ein Junge von acht Ja h ren, dessen Schrei die beiden Frauen heru m fahren ließ.
Der Junge wies hinauf zur Galerie. Dort kletterte Helen mit langsamen, steifen Bewegungen über das Geländer.
Augenblicklich handelte Anyanwu. Luisa hatte noch nie einen Menschen so blitzschnell reagieren gesehen. Als H e len zum Sprung ansetzte, stand Anyanwu genau unter ihr. Sie breitete die Arme aus und fing das Mädchen auf, das mit dem Kopf zuerst von der Galerie stürzte. Noch bevor Luisa richtig begriffen hatte, was geschah, war alles schon vorüber. Anyanwu hielt ihre Tochter in den Armen und sprach beruhigend auf die Weinende ein.
»Warum hat sie das getan?« fragte Luisa. »Was ist g e sch e hen?«
Anyanwu zuckte die Schultern. Sie war entsetzt und fa s sungslos.
»Es war Joseph«, sagte Helen schließlich. »Er bewegte meine Beine. Ich dachte, es sei nur ein Traum, bis …« Sie schaute zur Galerie hinauf, dann blickte sie ihre Mu t ter an, die sie immer noch in den Armen hielt. Sie begann wieder zu weinen.
»Obiageli«, sagte Anyanwu. »Bleib hier bei Luisa. Wa r te hier auf mich. Ich werde zu ihm hinaufg e hen.«
Doch Helen klammerte sich schreiend an sie, als Luisa versuchte, den Griff der kleinen Hände um Anyanwus A r me zu lockern. Anyanwu schüttelte den Kopf. Sie würde noch eine Weile warten mü s sen, bis das Kind sich beruhigt hatte. Als Helens Weinkrampf sich endlich löste, war es nicht Luisa, sonder Iye, die Anyanwu das Mädchen a b nahm.
»Halte sie bei dir«, sagte Anyanwu. »Laß sie nicht ins Haus. Niemand soll das Haus betreten, bevor ich zurück bin!«
»Was hast du vor?« fragte Iye.
Anyanwu gab keine Antwort. Ihr Leib hatte bereits b e gonnen, sich zu verwandeln. Sie streifte den U m hang und das Nachtgewand ab. Bereits als die Kle i dungsstücke zu Boden fielen, hatte ihr Körper seine menschliche Form fast völlig verloren. Die Verwandlung geschah mit äußerster Schne l ligkeit. Diesmal nahm Anyanwu die Gestalt einer großen, gefleckten Raubkatze an, statt des großen schwa r zen Hu n des, der allen vertraut war.
Nachdem die Verwandlung vollzogen war, bewegte sich Anyanwu auf den Eingang zu, und Luisa öffnete ihr die Tür. Die alte Frau wollte ihr ins Haus folgen, aber die Raubkatze wandte den Kopf und ließ ein scharfes Fauchen hören.
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