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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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beibringen sollte. Anyanwu weiß nicht, wie sehr sie geliebt wird, dac h te Luisa. Sie schart Menschen um sich, kümmert sich um sie und sorgt dafür, daß sie sich auch gegenseitig helfen. Luisas Wahrne h mungsvermögen war so au s geprägt, daß die Nähe anderer Menschen für sie die meiste Zeit ihres Lebens eine Qual gewesen war. Ihre Kindheit und Jugend hatte sie auf einer richtigen Plantage verbracht. Die allgemein üblichen und für selbstverständlich gehaltenen Grausamkeiten der Skl a venhalter gegenüber ihren Sklaven hatte Luisa in eine Ehe getrieben, die sie nie hätte eingehen dürfen. Die Leute fa n den ihr Mitgefühl für die Sklaven übertrieben und hielten sie für eine etwas zu gefühlvolle junge Frau. Niemand ah n te, daß Luisa die meiste Zeit genau das empfand und erlitt, was auch die Sklaven empfanden und erlitten: wenig Fre u de und ein Übermaß an Pein und Schmerzen. Sie besaß keine Kontrolle über ihre Fähigkeiten, wie Stephen sie b e sessen hatte. Sie hatte nie diesen grauenhaften Übergang durchlebt, den – wie sie wußte – Stephen vor zwei Jahren durchschritten hatte. Doro hatte ihr erklärt, der Grund hie r für sei bei ihren Vorfahren zu finden. Er sagte, sie stamme von seinem Volk ab. Wenn das stimmte, dann war es seine Schuld, daß sie ein Leben lang die Verachtung ihres Gatten und die Gleichgültigkeit ihrer Kinder hatte ertragen mü s sen. Es war seine Schuld, daß sie sechzig Jahre alt we r den mußte, bis sie Menschen fand, deren Gegenwart sie ertr a gen, Menschen, die sie lieben konnte und von denen sie wiedergeliebt wurde. Für die Kinder auf der Plantage war sie die »Großmutter«. Einige von ihnen lebten sogar bei ihr in ihrer Hütte, weil deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten oder nicht kümmern wollten. Luisa glaubte, daß manche Eltern nicht einmal in der Lage waren, auch nur das kleinste negative oder aufsässige Gefühl i h rer Kinder zu verkraften. Anyanwu glaubte, es sei mehr als das. Ihrer Meinung nach gab es Menschen, die einfach keine Kinder um sich haben wollten, ob diese nun aufsässig waren oder nicht. Sie sagte, manche von Doros Leuten seien so. Auch Anyanwu nahm sich dieser heimatlosen Kinder an – und sie nahm nicht nur Kinder auf, sondern auch heimatlose Erwachsene. Ihr Sohn hatte den Eindruck gemacht, als werde er einmal in die Fußstapfen seiner Mutter treten. Und nun war dieser Sohn tot.
    »Was ist?« fragte Anyanwu. »Was ist geschehen?«
    »Ein Unfall«, sagte Luisa in dem Bemühen, ihr das Schreckliche schonend beizubringen.
    »Ist es Joseph?«
    »Joseph!« Dieser Sohn einer Hure, den Doro Anyanwus Tochter als Ehemann gebracht hatte. »Würde ich dich g e weckt haben, wenn es Joseph wäre?«
    »Wer ist es dann? Bitte, Luisa, sag es mir.«
    Die alte Frau holte tief Atem. »Dein Sohn«, sagte sie. »Stephen ist tot.«
    Es folgte ein langes, furchtbares Schweigen. Anyanwu saß da wie versteinert. Doch keine Träne rann über ihre Wa n gen, kein Laut der Trauer entrang sich ihren Lippen.
    »Wie konnte das geschehen?« fragte sie schließlich le i se. »Er war neunzehn. Er war ein Heiler. Wie konnte er ste r ben?«
    »Ich weiß es nicht. Er … stürzte.«
    »Von wo?«
    »Von der Galerie!«
    »Aber wie? Warum?«
    »Wie kann ich das wissen, Anyanwu? Es geschah in der vergangenen Nacht. Es muß so gewesen sein. Ich fand ihn erst vor wenigen Minuten.«
    »Zeig ihn mir!«
    Nur mit ihrem Nachtgewand bekleidet, wollte sie nach unten gehen, doch Luisa holte einen Umhang aus dem Schlafzimmer und legte ihn Anyanwu um die Schultern. Beim Verlassen des Raumes fiel ihr auf, daß das Mädchen sich unruhig im Bett hin und her wälzte und leise stöhnte. Ein Alptraum?
    Inzwischen war Stephens Leichnam auch von anderen en t deckt worden. Einige Schritte von dem Toten entfernt sta n den zwei Kinder und starrten aus schreckgeweiteten Augen auf ihn nieder. Eine Frau kniete neben ihm und weinte hemmungslos.
    Es war Iye, eine hochgewachsene, hübsche Frau, in der sich französisches, afrikanisches, spanisches und indian i sches Blut mischte. Luisa wußte, daß sie sechsunddreißig Jahre alt war, doch sie hätte ohne weiteres sechsundzwa n zig oder noch jünger sein können. Die Kinder waren ihr Sohn und ihr kleines Töchterchen, und das Kind, das sie noch unter dem Herzen trug, würde Stephens Sohn oder Tochter werden. Sie hatte einen Trinker geheiratet, der an seiner Trunksucht zugrunde gegangen war. Völlig mittellos blieb sie mit den beiden Kindern zurück und

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