Wilde Saat
sich ohne mich.« Es machte eine Pause, sah Anyanwu an. »Wenn Stephen in meine G e danken schaute, hab’ ich das nie gemerkt.«
»Ja, weil Stephen die Gedanken anderer nur sehen kann«, erwiderte Anyanwu. »Er kann nicht bewirken, daß ein a n derer etwas tut.«
»Stephen würde das niemals tun, auch wenn er es kön n te.«
»Nein.«
Die Augen niedergeschlagen, fuhr das Mädchen fort: »Wir gingen ins Haus, und er wollte gerade die Tür hinter mir schließen, als ich merkte, daß ich wieder Gewalt über me i ne Beine hatte. Ich rannte nach draußen, bevor die Tür ins Schloß fiel. Dann hielt er meine Beine fest. Ich schrie und fiel zu Boden. Ich dachte, er würde mich zwingen, wieder zurückzug e hen, aber er kam aus der Hütte, packte mich und zerrte mich hinein. Ich glaube, das war der A u genblick, in dem Stephen uns sah.« Sie hob die Lider. »Hat Stephen ihn getötet?«
»Nein.« Anyanwu lief ein Schauder über den Rücken. Sie wollte nicht daran denken, was Doro mit Stephen m a chen würde, wenn Stephen den total verdo r benen Joseph getötet hätte. Nein, wenn es no t wendig war, zu töten, dann mußte es durch sie, Anyanwu, geschehen. Vermutlich ha ß te niemand auf der Plantage das Töten so sehr wie sie. Aber sie war veran t wortlich für das Leben der Ihren. Sie mußte die Menschen schützen vor Doros teuflischen Ei n dringlingen und vor Doro selbst. Sie konnte nur ho f fen, daß Joseph aus dem Vorfall gelernt hatte und sich ruhig ve r hielt, bis Doro zurückkam und ihn aus der Plantage en t fernte.
»Stephen hätte ihn umbringen sollen«, sagte Helen leise. »Jetzt wird er mich vielleicht wieder zum G e hen zwingen. Oder vielleicht tut er noch etwas viel Schlimmeres!« Sie schüttelte den Kopf, ihr Kinde r gesicht wirkte hart und alt.
Anyanwu ergriff die Hand des Mädchens. Sie dachte an Lale, Isaaks unwürdigen Bruder. In der ganzen Zeit, in der sie Doro kannte, war sie nie mehr einem so gefährlichen Menschen begegnet wie Lale. Bis zu diesem Augenblick vielleicht. Warum hatte Doro ihr einen solchen Menschen wie Joseph geschickt. Und warum hatte er sie nicht w e nigstens vor ihm g e warnt?
»Was wirst du mit ihm machen?« fragte das Mädchen. »Ich werde Doro sagen, daß er ihn hier we g holt.« »Wird Doro auf dich hören, nur weil du es sagst?« Anyanwu zuckte zusammen. Nur weil du es sagst? Wie lange hatte es auf der Plantage keine Schwierigkeiten gegeben, weil alle sich nach dem gerichtet hatten, was sie sagte. Die Me n schen waren damit zufrieden gewesen. Anyanwus Wort hatte i h nen genügt. Wenn es Probleme gab, die sie selbst nicht lösen konnten, waren sie zu ihr gekommen. Bei Stre i tigkeiten, die sie selbst nicht beizulegen vermochten, e r warteten sie, daß Anyanwu den Schiedsrichter machte. Anyanwu hatte sie nie dazu aufg e fordert, mit ihren Sorgen zu ihr zu kommen, aber sie hatte auch noch nie jemanden ohne Rat und Zuspruch wieder fortgeschickt. Für die Me n schen war sie zur einzigen und letzten Instanz auf der Pla n tage geworden. Und nun wollte ihre elfjährige Tochter wi s sen, ob etwas Bestimmtes geschehen würde, nur weil sie, Anya n wu, es sagte. Ihre Elfjährige! Es hatte Zeit, Geduld und auch Klugheit erfordert, das Vertrauen dieser Me n schen zu gewinnen. Aber die wenigen Wochen seit Doros Auftauchen auf der Plantage hatten genügt, dieses Vertra u en so unheilvoll zu zerstören, daß sogar ihre Kinder an ihr zu zweifeln begannen.
»Wird Doro ihn von hier fortholen?« wiederholte das Mädchen hartnäckig. »Ja«, antwortete Anyanwu ruhig. »Ich werde dafür sorgen.«
In dieser Nacht verließ Stephen zum erstenmal im Schlaf das Bett und wandelte durch das Haus. Er betrat die Galerie des Säulenvorbaus und sprang oder stürzte in die Tiefe. Niemand bemerkte den Vorgang. Es entstand kein Lärm, und Stephen gab keinen Laut von sich, während er fiel. Im Morgengrauen fand ihn die alte Luisa. Mit seltsam verren k ten Gliedern lag er auf der Veranda. Nach dem Anblick, den er bot, war Luisa nicht überrascht, daß sein Körper sich bereits kalt anfühlte. Die alte Frau stieg die Treppe hinaus, weckte Anyanwu und führte sie in eins der Woh n zimmer, um die kleine Helen nicht zu stören, die bei Anyanwu lag. Das Kind schlief weiter, nachdem es sich mit einem zufri e denen Seufzer in die warme Mulde gelegt hatte, die Anyanwu verlassen hatte.
Im Wohnraum stand Luise unentschlossen und stumm vor Anyanwu und fragte sich verzweifelt, wie sie ihr die furchtbare Nachricht
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