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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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krank vor Hunger, und sie würde dem Wahnsinn nahekommen, wenn sie g e zwungen war, jetzt sofort zu wechseln, damit sie sich etwas zu essen holen konnte.
    Luisa trat ins Haus, sah sie und blieb stehen. Die alte Frau hatte keine Furcht vor ihr. Anyanwu witterte nichts von jener Ausdünstung, die ihr die Angst eines Menschen verriet und die sie zwang, ihre Umwandlung zu beschle u nigen, damit sie nicht den Kopf verlor und sich in ihrer Gier über ihn hermac h te.
    »Ist er tot?« fragte die alte Frau.
    Anyanwu senkte den Kopf und hoffte, daß Luisa dies als ein Nicken verstehen würde.
    »Der wird uns also nichts mehr antun!« meinte Luisa. »Bist du hungrig?«
    Wieder nickte Anyanwu, einmal, ein zweites Mal.
    »Geh in den Speiseraum. Ich werde dir etwas bri n gen.« Luisa verließ das Haus und ging zur Küche hinüber. Sie war eine treue und verständnisvolle Freundin. Sie war der gute Geist auf der Plantage. Und sie machte sich nicht nur mit Näharbeiten überall nützlich. Anyanwu hätte sie bei sich beha l ten, auch wenn Luisa zu keiner Tätigkeit mehr fähig gewesen wäre. Aber sie war schon so alt. Über sie b zig. Schon bald würde irgendeine Krankheit, für die Anyanwu keine Medizin herzustellen wußte, sie b e fallen. Und wieder war ein Freund dahingegangen. Die Menschen w a ren hinfällige Wesen, unerträglich hinfällig.
    Entgegen Anyanwus ausdrücklicher Anordnung b e traten Iye und Helen das Haus. Sie erblickten Anyanwu, die blu t beschmiert und zitternd vor Hunger immer noch in der Ha l le stand. Nur wegen des Kindes nahm Anyanwu sich z u sammen und zwang sich, Iye nicht mit einem zornigen Fauchen davonz u jagen. Sie mochte es nicht, wenn Kinder sie in einem solchen Zustand sahen. Mit wenigen g e schmeidigen Bewegungen setzte sie durch die Halle und ve r schwand im Speiseraum.
    Iye blieb zurück, erlaubte Helen jedoch, Anyanwu zu folgen. Anyanwu kämpfte mit ihrem Hunger und ihrem Zorn und bemerkte zuerst nicht, daß Helen hinter ihr den Speis e raum betrat. Müde ließ sie sich auf dem Teppich vor dem Kamin nieder. Helen n ä herte sich ohne Furcht und kniete neben ihr auf dem Teppich nieder.
    Anyanwu blickte auf. Sie wußte, daß ihr blutverschmie r tes Fell schreckenerregend aussah, und sie wünschte, sie hätte sich saubergemacht, bevor sie die Treppe hinunterg e gangen war. Aber wie hatte sie wissen können, daß Iye so u n zuverlässig war.
    Helen streichelte Anyanwus Fell. Sie berührte die g e fleckten Stellen mit dem Finger und kraulte sie, als wäre sie nur eine große, ungefährliche Hauskatze. Wie die mei s ten der Kinder, die auf der Plantage geboren waren, hatte sie schon oft dabei zugesehen, wie Anyanwu ihre Gestalt wechselte. Der Leopard war genauso selbstverständlich für sie wie der schwarze Hund und der weiße Mann namens Wa r rick, in den Anyanwu sich der Nachbarn wegen von Zeit zu Zeit verwandelte. Irgendwie beruhigten Anyanwu die Hände des Kindes, und die Anspannung fiel von ihr ab. Nach einer Weile begann sie zufri e den zu schnurren.
    »Agu«, sagte das kleine Mädchen leise. »Agu« war eins der wenigen Worte, die Helen aus Anyanwus Heimatspr a che kannte. Es bedeutete einfach »Leopard«. »Agu«, wi e derholte sie zärtlich. »Bleib so, bis Doro kommt! Er wird es nicht wagen, uns etwas a n zutun, solange du da bist.«

XIII
    Es war ein Monat nach dem furchtbaren Geschehen, als Doro zurückkehrte. Joseph Tolers gräßlich ve r stümmelter Leichnam war auf dem ehemaligen Sklavenfriedhof zw i schen kniehohem Unkraut begraben worden. Stephen Ifeyinwa Mgbada hatte in geweihter Erde, neben den Gra b stä t ten der Herrschaftsfamilie, seine letzte Ruhe gefunden. Joseph würde sehr einsam sein in seiner Grube. Seit Anyanwu den Besitz erworben hatte, war nie wieder j e mand auf dem Sklavenfriedhof beigesetzt worden. Anya n wu hatte der Sklaverei auf ihrer Plantage ein Ende g e macht.
    Lange vor seiner Ankunft mußte Doro gespürt haben, daß Joseph und Stephen tot waren. Er brachte einen Ersatz mit: zwei Knaben, nicht älter als Helen. Er kam unerwartet und schritt ins Haus, als sei er der Besitzer.
    Anyanwu saß in der Bibliothek und war damit beschä f tigt, eine Einkaufsliste zu erstellen. Sie war dazu überg e gangen, viele Dinge nicht mehr selbst her s tellen zu lassen, sondern sie in der Stadt zu kaufen: Seife, gewöhnliche Stoffe, Ke r zen. Sogar manche Arzneien waren durchaus verwendbar, wenn auch nicht zu den Zwecken, zu denen ihre Hersteller sie vorgesehen hatten. Sehr

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