Wilde Saat
erschöpft nach unten, um ihre Kajüte aufzusuchen. Der kleine Raum stand knöcheltief unter Wasser. Bett und Se s sel waren naß. Anyanwu stand in der Mitte des Raumes und starrte hilflos auf das Chaos, das hier herrschte. Schließlich trat Doro ein. Er schaute sich um und sah, daß sie hier nicht bleiben konnte. Er führte sie in eine trocken e re Kaj ü te.
»Warst du an Deck?« fragte er sie.
Sie nickte.
»Dann hast du es gesehen.«
Sie fuhr herum und sah ihn verständnislos an. »Was h a be ich gesehen?«
»Den besten meiner Söhne«, sagte Doro stolz. »Isaak hat getan, wozu er geboren wurde. Er brachte uns durch den Sturm – schneller, als man es jemals von einem Schiff e r warten kann.«
»Wie?«
»Wie?« Doro lachte. »Wie veränderst du deine G e stalt? Wie machst du es, daß du schon dreihundert Jahre alt bist!«
Sie blinzelte mit den Augen, machte einige Schritte in den Raum und ließ sich auf das Bett fallen. Nach einer Weile hob sie den Kopf und blickte sich in der Kajüte um, in die er sie geführt hatte. »Wessen Platz ist das?«
»Der des Kapitäns«, sagte Doro. »Er wird sich eine Zei t lang mit etwas anderem begnügen müssen. Du wohnst jetzt hier. Ruhe dich aus!«
Er lachte. »Dein Verstand wird an dieser Nacht alle r hand zu verarbeiten haben. Es würde mich jedenfalls nicht verwundern, wenn es so wäre. Meine a n deren Söhne haben andere Fähigkeiten, aber keiner von ihnen ist so wie Isaak.«
Anyanwu fühlte sich abgespannt. Sie war nicht direkt müde, jedenfalls nicht körperlich. Die Anstre n gungen, die sie hinter sich hatte, waren nicht von der Art, die eine lan g anhaltende Erschöpfung in ihr z u rückließ. Es war ihr Geist, der erschöpft. war. De s halb brauchte sie Schlaf. Dann erst würde sie sich auf die Suche nach Isaak begeben. Sie mu ß te herausfinden, welches Geheimnis sich hinter dem l a chenden, gelbhaarigen jungen Mann verbarg.
Sie schloß die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Sie wußte nicht, ob Doro sich zu ihr gelegt hatte oder nicht. Es war nur wenig später, als sie wieder erwachte und feststel l te, daß sie allein war. Irgend j e mand klopfte an die Tür.
Sie schüttelte den Schlaf ab und sprang auf. Im gle i chen Moment, da sie die Tür öffnete, warf ein gr o ßer, hagerer Matrose den halbbewußtlosen Isaak in ihre Arme.
Einen Augenblick lang schwankte sie, mehr vor Überra schung als wegen des Gewichts des jungen Mannes. Mit einer reflexartigen Bewegung hatte sie nach ihm gegriffen. Jetzt, nachdem sie festen Stand gefunden hatte, spürte sie die wächserne Kälte seiner Haut. Er schien sie nicht zu e r kennen, nicht ei n mal wahrzunehmen. Seine Augen waren halb geöffnet, und sein Blick hatte etwas Starres, Ve r schleiertes. Er w ä re zu Boden gesunken, hätte sie ihn nicht festgeha l ten.
Sie nahm ihn auf die Arme, als wäre er ein Kind, legte ihn aufs Bett und hüllte ihn in mehrere Decken. Dann schaute sie auf. Sie sah, daß der hagere Matrose immer noch im Türrahmen stand. Er war ein grünäugiger Matrose mit einem Kopf, der viel zu groß wirkte. Seine Wange n knochen drohten die fleckig-gelbe, stoppelbärtige G e sichtshaut zu durchstoßen. Er war ein Weißer, aber er b e saß eine unr e gelmäßige Bräune und wirkte schwach und kränklich. Er war einer der häßlichsten Männer, die Anyanwu jemals gesehen hatte. Und er gehörte zu denen, die während des Sturmes bei Doro gestanden hatten. Einer se i ner Söhne. Einer der wenigen guten – falls man das vom Aussehen her beurteilen konnte. Einer derjenigen, denen sie auf Doros Geheiß aus dem Weg gehen sollte. Nun, sie wollte Doros Befehl ge r ne befolgen, aber was sollte sie tun, wenn dieser Mann sich nicht von der Stelle bewegte! Er hatte ihr Isaak gebracht. Nun sollte er endlich gehen, damit sie sich um den Jungen kümmern konnte. Sekunde n lang tauchte im Hintergrund ihrer Gedanken die Fr a ge auf, was mit einem Mann geschehen sein konnte, der es fertigbrac h te, große Schiffe mit solcher Geschwindigkeit durchs Wa s ser zu treiben. Was war ihm zugestoßen? Warum hatte D o ro nie eine Ande u tung gemacht, daß Isaak krank war?
Der Gedanke an Doro versetzte ihr Hirn in einen selts a men Reizzustand. Sie sah Doro – oder ein Bild von ihm. Sie sah ihn als Weißen, gelbhaarig wie Isaak, grünäugig wie der häßliche Matrose. Sie hatte Doro nie in der Gestalt eines Weißen gesehen, hatte von ihm nie eine Beschre i bung se i ner weißen Körper bekommen. Und doch wußte sie mit
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