Wilde Saat
einmal. Es ist lange her, daß ich eine Frau gewesen bin.«
Anyanwu wandte sich von ihm ab. Von der Gier und vom Hunger getrieben riß sie neue Fleischstücke aus dem Kö r per seines Sohnes.
Doro packte sie mit beiden Armen und zerrte sie von dem Toten weg. Als sie versuchte, sich ihm wieder zu n ä hern, trat und schlug er nach ihr.
»Nimm dich zusammen!« befahl er. »Werde wieder Frau!«
Sie wußte nicht, wie sie diese Verwandlung schaffen konnte. Sie wußte nicht, was sie davon abhielt, ihn in St ü cke zu reißen. Furcht? Nicht in einem solchen Auge n blick. Doro ahnte nicht, welches Blutbad sie vor langer Zeit unter ihren Leuten angerichtet hatte, als sie unerwartet von ihnen angegriffen wurde und gezwungen war, sich in Sekunde n schnelle zu ve r wandeln. Diesen Teil des Kampfes hatte sie fast ganz vergessen – aus Scham. Ihr Volk aß kein Me n schenfleisch – doch sie hatte es damals getan. Sie hatte e i nen furchtbaren Terror ausgeübt, und es war eine lange Zeit vergangen, bis ihre Leute den Vorfall vergessen ha t ten. Schließlich waren die Zeugen ihrer Schande gestorben. Nur Anyanwu überlebte. Und die Legende ihrer Tat. Eine Legende, in die die Zeit Dämonen und Götter verwob. Doch was sollte sie jetzt tun? Es war unmöglich, Doro zu zwingen, daß er den blutigen, zerfetzten Körper zu seinen Füßen vergaß.
Sie wurde wieder eine Frau, sie lag auf dem Boden der K a jüte, mit dem Gesicht nach unten und dem Rücken zur Le i che. Es überraschte sie, daß Doro nicht fortfuhr, auf sie einzuschlagen, daß er ihrem Leben kein Ende mac h te. Es gab keinen Zweifel für sie, daß er dazu i m stande war.
Er hob sie auf, achtete nicht auf das Blut, mit dem ihr Kö r per beschmiert war, und legte sie neben Isaak aufs Bett. Dort lag sie, entkräftet, reglos, ohne Doro anzuschauen. In ihrem Magen setzte die Verdauung ein. Nahrung! Leben s kraft! Sie brauchte mehr d a von!
»Warum ist Isaak hier?« fragte Doro. Seine Stimme klang ausdruckslos. Nicht einmal Ärger schwang darin mit.
»Der andere brachte ihn zu mir. Lale Sachs. Er sagte, du hättest Isaak zu mir geschickt …« Verwirrt hielt sie inne. »Nein! Das hat er nicht gesagt. Er … er war in meinen G e danken, er …«
»Ich weiß, was du sagen willst.«
Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Doros Gesicht sah müde aus, hohlwangig und verstört. Er sah aus wie ein Mann, der leidet und Schmerzen hat. Sie verspürte den Wunsch, ihn zu berühren, ihn zu trösten. Doch ihre Hände waren voller Blut.
»Was hat er sonst noch gesagt?«
Sie rollte den Kopf hin und her. »Ich weiß es nicht. Er machte, daß ich mich mit Isaak auf dem Bett li e gen sah, dann mit ihm. Er machte, daß ich es für die Wirklichkeit hielt, daß ich es wünschte.« Wieder drehte sie den Kopf zur Seite. »Ich versuchte, ihn fortzuschicken, ohne ihn … zu verletzen. Da ve r wandelte er sich in eine Art Dämon … Doro, ich brauche etwas zu essen.« Die letzten Worte stieß sie hervor wie einen Schmerzensschrei.
Er begriff. »Warte hier!« sagte er leise. »Ich werde dir etwas holen.«
Als er gegangen war, stieg der Geruch des Fleisches auf dem Fußboden zu ihr empor. Das Hungergefühl wurde unerträglich. Stöhnend wälzte sie sich auf den Bauch und drückte das Gesicht in die Decken. Neben ihr gab Isaak einen leisen Laut von sich und drängte sich näher an sie. Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
Er war immer noch halb bewußtlos. Seine Augen waren geschlossen, aber Anyanwu sah, daß sich seine Lider b e wegten. Auch seine Lippen bewegten sich, formten lautlose Worte. Er besaß fast den Mund eines Schwarzen, die Li p pen waren voller als bei anderen Weißen. Die Bartstoppeln in seinem G e sicht verrieten, daß er sich längere Zeit nicht rasiert hatte. Er besaß ein breites, kantiges Gesicht, das e i ne gewisse Anziehung auf Anyanwu ausübte, und seine Haut war von einem schönen gleichmäßigen Braun. Sie fragte sich, welche weiße Frau an ihn denken mochte. Sie fragte sich, wie weiße Frauen wohl au s sehen würden.
»Essen, Anyanwu«, sagte Doro neben ihr.
Sie sprang auf, entsetzt. Versagte ihr Gehör? Wurde sie taub? Nie zuvor war es Doro gelungen, sich ihr unbemerkt zu nähern! Doch im Augenblick spielte das keine Rolle. Sie war hungrig.
Sie entriß ihm das Brot und das Fleisch, das er ihr brac h te. Beides war hart und trocken – die Sorte von Nahrung, von der die Mannschaft ausschließlich lebte. Aber für ihre Zähne und Kiefer war es keine Herausforderung. Doro
Weitere Kostenlose Bücher