Wilde Saat
Warnung: »Bleib weg von ihnen! Isaak ist der beste von ihnen, zuve r lässig und charakterfest. Die anderen sind das nicht. Sie sind g e fährlich – sogar für dich.«
Doro zog sich die Kleidung der Weißen an, die er seit Beginn der Reise trug, und ging wieder hinauf zu seinen Sö h nen. Anyanwu folgte ihm. Sie vertraute auf ihre Kraft und Geschmeidigkeit, die sie schützen würden.
An Deck tobte der Sturm mit unvorstellbarer Gewalt. R e genböen peitschten ihnen entgegen. Das bläulich weiße Licht zuckender Blitze wechselte mit absol u ter Schwärze. Mächtige Brecher gingen über Deck und hätten jeden Schwächeren von Bord gespült. Anyanwu stand da und ve r suchte, ihre Augen so rasch wie möglich der Dunkelheit anzupassen. Schließlich konnte sie die Gegenstände um sich h e rum erkennen – und trotz des heulenden Windes, trotz des prasselnd niedergehenden Regens und der rollenden Bra n dung hörte sie Stimmen. Fetzen englischer Worte, verzwe i felt und voller Panik, drangen zu ihr herüber, und Anyanwu versuchte, ihre Bede u tung zu verstehen. Doch selbst wo die Worte ihr unverständlich blieben, ließ ihr Klang über deren Inhalt keine Zweifel. Es waren Schreie in höchster Not.
Jemand rannte in sie hinein, stieß sie um und stürzte über sie. Es war einer der Matrosen, den der Wind und die tosenden Wogen von den Beinen gerissen hatten. Die mei s ten der Männer hatten sich festg e bunden und hofften, so dem Wüten des Meeres zu entgehen.
Der Sturm nahm plötzlich noch an Stärke zu, und mit ihm wälzte sich ein riesiger Wellenberg über Deck. Das Schiff neigte sich auf die Seite und drohte zu kentern. Anyanwu faßte einen Arm des Matrosen, mit der anderen Hand hielt sie sich an der Reling fest. Im letzten Auge n blick g e lang es ihr, sich und den Mann zu retten. Sie zog ihn zu sich heran und legte den Arm um ihn. Mehrere S e kunden lang blieb sie so stehen. Weiter hinten, neben dem dritten der gewa l tigen Segelmasten auf dem Achterdeck, wie Isaak es nan n te, stand Doro mit Isaak und drei anderen Männern – Söhnen von ihm – die auf ihren Einsatz wart e ten.
Anyanwu konnte Isaak deutlich von den anderen unte r scheiden. Er stand etwas abseits. Die Arme e r hoben und den Kopf gesenkt, stemmte er sich gegen die andrängenden Wassermassen. Seine Kleidung und die gelben Haare we h ten im Sturm, Einen M o ment lang glaubte sie, er blickte sie an – oder in ihre Richtung – aber bei dem Regen und der Dunkelheit konnte er sie unmöglich sehen. Ihm fehlte Anyanwus Fähigkeit, die Gegenstände auch bei absoluter Fi n sternis wahrzunehmen. Anyanwu beobachtete Isaak fasz i niert. Er hatte sich nicht angebunden wie die anderen, dennoch behielt er seine eigenartige Ha l tung bei, während das Schiff unter ihm hin und her schlingerte.
Der Wind schwoll weiter an. Eine Welle nach der and e ren spülte über Deck, und es gab Augenblicke, in denen Anyanwu fürchtete, ihre Kräfte könnten versagen. Augen b licke, in denen sie drauf und dran war, den bewußtlosen Matrosen in ihren Armen ei n fach loszulassen. Doch sie hatte dem Mann nicht das Leben gerettet, um es jetzt doch noch wegzuwerfen.
Das Schiff schien Fahrt aufzunehmen. Anyanwu spürte, wie der Druck des Sturmes sich verstärkte. Peitschend fuhr ihr der Regen ins Gesicht, und sie versuchte, den Körper des Matrosen als Schild zu benutzen. Sie hatte das Gefühl, als segle der Klipper gegen den Wind wie ein Geisterschiff, das eigenen Gesetzen gehorchte. Voller Entsetzen u m schloß ihre Hand das Deckgeländer noch fester.
Dann riß plötzlich die Wolkendecke auf, und Sterne glitzerten am Himmel. Der Mond spiegelte sich si l bern auf der fast unbeweglichen Wasserfläche. Winzige Wellen kräuse l ten die See und leckten harmlos an der Schiffswand. Der Wind war nur noch eine sanfte Brise, die kühl über Anyanwus nassen, fast unbekleideten Körper strich.
Anyanwu ließ den Matrosen los und erhob sich. Überall auf dem Schiff ertönten laute Rufe. Die Männer befreiten sich von den Stricken, mit denen sie sich gesichert hatten und rannten zu Isaak hinüber. Anyanwus Matrose kam schwankend auf die Beine, schaute auf Isaak, dann auf Anyanwu. Benommen schüttelte er den Kopf, sah zum Sternenhimmel auf und zum Mond. Ein heiserer Schrei entrang sich seiner Kehle. Er ließ Anyanwu stehen und rannte hinter den anderen her auf Isaak zu.
Einen Augenblick lauschte Anyanwu dem Beifall der Männer – jetzt wußte sie, daß es Beifall war –, dann stieg sie
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