Wilde Saat
reichte ihr Wein, und sie trank gierig. Das frische Fleisch auf dem Boden wäre be s ser gewesen, aber nun, da sie sich wieder unter Kon t rolle hatte, würde sie es um nichts auf der Welt wi e der anrühren.
»Erzähle mir alles, was geschehen ist«, forderte D o ro sie auf, als sie gegessen hatte.
Sie erzählte. Sie brauchte eigentlich Schlaf, doch nicht so dringend, wie sie Nahrung gebraucht hatte. Und Doro hatte das Recht, zu erfahren, wie sein Sohn gestorben war.
Nachdem sie geendet hatte, wartete sie auf eine Äuß e rung oder Reaktion von ihm, aber er schüttelte nur den Kopf und seufzte. »Schlaf jetzt, Anyanwu, ich werde Lale fortscha f fen. Und Isaak.«
»Aber …«
»Schlaf! Du bist todmüde, deine Worte klingen, als sprächest du im Traum.« Er beugte sich über sie und nahm Isaak auf seine Arme.
»Was ist mit ihm?« murmelte sie.
»Er hat sich überanstrengt, genau wie du. Er wird schon wieder in Ordnung kommen.«
»Er fühlt sich so kalt an.«
»Du würdest ihn wärmen, wenn ich ihn hier ließe. Du wü r dest ihn wärmen, wie Lale es wollte. Aber nicht einmal deine Körperkräfte würden ihn bänd i gen können, wenn er erwachte.«
Und bevor ihr langsamer, schläfriger Verstand etwas fragen konnte, hatte Doro mit Isaak die Kajüte ve r lassen. Sie nahm nicht mehr wahr, ob er noch einmal zurückkam, um Lale zu holen, oder ob er in dieser Nacht neben ihr schlief. Es kümmerte sie nicht.
Lale Sachs wurde am nächsten Tag ins kalte Meer ve r senkt. Anyanwu nahm an der kleinen Zeremonie teil, die Kapitän Woodley vornahm. Sie hatte gewünscht, ihr fer n bleiben zu können, doch Doro hatte es nicht geduldet. Er erzählte allen, was sie getan hatte und zwang sie, sich der Mannschaft zu zeigen. Anyanwu glaubte, er wolle sie ö f fentlich bloßstellen, und sie wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Später nannte er ihr den Grund für sein Ve r halten.
»Es geschah zu deinem Schutz«, erklärte er. »Jede r mann an Bord ist nun davor gewarnt, dich zu belä s tigen. Meine Söhne sind doppelt gewarnt. Lale zog es vor, mich zu ign o rieren. Es scheint, daß es mir nicht möglich ist, die Dum m heit aus allen meinen Leuten herauszuzüchten. Er rechnete mit einem Schauspiel besonderer Art, wenn Isaak wieder zu sich kommen und Hunger auf eine Frau verspüren wü r de, der so groß war wie dein Hunger auf Nahrung. Vie l leicht hoffte er sogar, er würde dich ebe n falls bekommen, nachdem Isaak mit dir fertig war.«
»Aber wieso konnte er in meine Gedanken eindringen und sie in eine bestimmte Richtung leiten?«
»Das war seine besondere Begabung. Ich habe Männer gehabt, die auf diesem Gebiet viel besser waren. So gut, daß sie dich absolut beherrscht hätten. Sie wären sogar f ä hig gewesen, deine Verwandlungen zu bestimmen. Du wärst wie Wachs in ihren Händen gewesen. Aber sie sind gesto r ben, obwohl diese Gruppe meist sehr alt wird. Lale war der beste aus der jetzt lebenden Generation.«
»Ich verstehe«, sagte Anyanwu.
»Nein, du verstehst nicht«, widersprach Doro. »Aber das wird noch kommen.«
Anyanwu wandte sich ab. Sie standen an Deck, und so blickte sie aufs Meer hinaus, wo mehrere große Fische aus dem Wasser heraussprangen, in hohem Bogen durch die Luft schossen und wieder ins Wasser eintauchten. Anya n wu hatte diese Tiere schon häufig beobachtet, und jedesmal wünschte sie sich seh n süchtig, eines von ihnen zu sein. Sie beneidete sie um die Eleganz ihrer Bewegungen, um ihre Kraft, um die Leichtigkeit, mit der sie sich im Wasser tummelten. Es reizte sie, es ihnen nachzutun, und gleic h zeitig fürchtete sie, der Versuch könnte feh l schlagen. Doch im Augenblick ließen diese Geda n ken sie kalt. Sie dachte an nichts anderes als an den toten Lale Sachs, der eing e hüllt in eine Segeltuchplane – so daß seine klaffenden Wunden nicht zu sehen waren – auf den harten Planken des Schiff s decks lag. Würden die fliegenden Fische beenden, was sie, Anyanwu, begonnen hatte? Würden sie das ve r zehren, was von dem törichten, häßlichen, bösa r tigen Mann übriggeblieben war?
Sie schloß die Augen, als vier Matrosen den Leichnam ins Meer versenkten.
»Was nun, Doro?« fragte sie ein wenig später. »Was wirst du nun mit mir machen?«
»Was sollte ich mit dir machen?« meinte er mit einem scherzhaften Unterton. Er legte die Hände um ihre Hüften und zog sie an sich.
Erschreckt entwand sie sich seinem Griff. »Ich habe deinen Sohn umgebracht.«
»Glaubst du, ich mache dir
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