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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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brachte, daß er ihn Anya n wu schenkte. Sie blickte zu den aufgeregten Matr o sen hinüber, lächelte und winkte den Fisch an Deck.
    Isaak ließ ihn genau vor ihren Füßen auf die Deckpla n ken nieder.
    An diesem Abend schmeckte allen an Bord nach langer Zeit wieder einmal das Essen. Vor allem Anyanwu war das Essen ein Genuß. Denn das Fleisch des Fisches vermittelte ihr alles an Wissen, das sie über seine körperliche Bescha f fenheit benötigte. Alles, was sie benötigte, um dessen G e stalt und Leben annehmen zu können. Schon eine kleine Menge rohes Fleisch sagte ihr mehr, als Worte es jemals ve r mocht hätten. Mit jedem Bissen erzählte der Fisch ihr tausendfach seine Geschichte. In dieser Nacht überraschte Doro sie bei dem Versuch, einen ihrer Arme in eine Seite n flosse zu verwandeln.
    »Was machst du denn da?« fragte er voller Abscheu.
    Sie lachte übermütig wie ein Kind, stand auf und ging ihm entgegen, während ihr Arm langsam wieder seine ur s prüngliche Form annahm. »Morgen«, sagte sie, »wirst du Isaak erklären, wie er mir helfen kann, und ich werde mich mit den Fischen im Meer tummeln. Ich werde ein Fisch sein. Ich weiß nun, wie es geht. So lange schon habe ich mir das g e wünscht.«
    »Woher weißt du, daß du es kannst?« Seine Neugier ha t te wie gewöhnlich alle negativen Empfindungen zurüc k gedrängt. Sie berichtete ihm von der Botschaft, die sie beim Essen des Fisches empfangen hatte. »Mitteilungen, so klar und deutlich, wie ihr sie euren Büchern entnehmt«, erklärte sie ihm. Im g e heimen war sie der Überzeugung, daß diese Fleischmitteilungen viel genauer und ausführl i cher waren, als die Bücher, die zu lesen er sie lehrte. »B ü cher und ihren Inhalt kann man leicht mißverstehen«, fuhr sie fort. »Andere Menschen haben sie verfaßt. Andere Menschen können lügen oder Irrtümern unterliegen. Das Fleisch jedoch sagt mir, was ist. Es hat keine andere G e schichte, die es mir erzählen könnte, als die eigene.«
    »Und wie liest du diese Mitteilungen?« fragte er. Lesen! Er gebrauchte das englische Wort für den Vorgang, und b e zeichnete ihn genauso, wie sie ihn erlebte.
    »Mein Körper liest sie – liest alles. Wußtest du, daß F i sche atmen wir wir? Bisher glaubte ich, daß sie die Luft aus dem Wasser holen.«
    »Es war ein Delphin«, murmelte Doro.
    »Er gleicht mehr einem Landtier als einem Fisch. In se i nem Inneren hat er viele Organe, wie auch die Landtiere sie haben. Die Verwandlung wird nicht so schwierig sein, wie ich zuerst angenommen habe.«
    »Mußtest du Leopardenfleisch essen, bevor du dich in einen Leoparden verwandeln konntest?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, was ein Leopard ist, konnte ich sehen. Ein Lebewesen, das ich sehen kann, macht mir keine Schwierigkeiten. Allerdings war ich nie ein richtiger Leopard, ich nahm immer nur seine Gestalt an – bis ich einmal einen tötete und etwas von ihm aß. A n fangs war ich nur eine Frau, die vorgab, ein Leopard zu sein – Staub, Lehm, zu einem Leoparden geformt. Wenn ich mich jetzt ve r wandle, werde ich wirklich einer.«
    »Und du wirst jetzt auch ein Delphin sein?« Er blickte sie an. »Du kannst nicht wissen, wie wertvoll du für mich bist. Soll ich zulassen, daß du dein Vorh a ben ausführst?«
    Sie zuckte erschreckt zusammen. Es war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß Doro B e denken haben könnte. »Es ist doch eine harmlose Sache«, erwiderte sie.
    »Eine gefährliche Sache! Was weißt du vom Meer?«
    »Nichts. Aber morgen werde ich es wissen. Sorge dafür, daß Isaak mich nicht aus den Augen läßt. Ich werde ganz in der Nähe des Schiffes bleiben. Wenn er sieht, daß ich in Schwierigkeiten bin, kann er mich aus dem Wasser wieder an Deck heben. Dort werde ich mich dann zurückverwa n deln.«
    »Weshalb willst du das tun?«
    Sie suchte nach einem Grund, den sie greifen und in Worte fassen konnte. Einen Grund, der sich von der plöt z lichen Sehnsucht unterschied, die sie beim Anblick der springe n den und tauchenden Tiere erfaßt hatte. Es war wie in jenen längst vergangenen Tagen in ihrer Heimat, als sie den Flug des Adlers beobac h tete und mit einemmal dem Verlangen nicht mehr widerstehen konnte, so wie er durch die Lüfte zu segeln. Sie hatte einen Adler getötet und von seinem Fleisch gegessen. Sie hatte alles über ihn erfahren und war in den Himmel aufgestiegen wie nie ein Mensch vor ihr. Mit mächtigen Flügelschlägen war sie davongefl o gen, war ihrer Stadt, ihren

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