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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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deswegen einen Vo r wurf?«
    Sie antwortete nicht, starrte ihn nur aus großen Augen an.
    »Ich hätte gern gehabt, daß er am Leben geblieben w ä re«, sagte Doro. »Er hat nur drei Kinder gezeugt, und ich hätte gern noch ein paar mehr von seiner Sorte gehabt. Aber wenn du ihn nicht getötet hättest und er sein Vorh a ben ausgeführt hätte, wäre mir wohl keine andere Wahl gebli e ben, als ihn selbst zu töten.«
    Sie senkte den Kopf. Irgendwie war sie über seine Wo r te nicht sehr überrascht. »Hättest du das wirklich fertigge b racht? Deinen eigenen Sohn?«
    »Einen jeden von ihnen«, erwiderte er.
    Sie blickte zu ihm auf, fragend, doch ohne eine An t wort zu wollen.
    »Ich beherrsche ein Volk, das über große Kräfte ve r fügt«, sagte er. »Das Maß an Zerstörung, das es a n richten kann, wenn es sich meinen Anordnungen widersetzt, übe r schre i tet alles Vorstellbare. Jeder einzelne, jede Gruppe, die mir den Gehorsam ve r sagt, ist nutzlos für mich und für den Rest meines Volkes gefährlich.«
    Anyanwu verspürte Unbehagen, sie begriff, was er ihr sagen wollte. Sie erinnerte sich an den Klang seiner Sti m me, als er in der vergangenen Nacht mit ihr sprach. »Komm, töte noch einmal! Es ist lange her, seit ich eine Frau gewesen bin!« Er hätte sie ve r schlungen, so wie sie das Fleisch seines Sohnes verschlungen hatte. Er würde jetzt ihren Körper tragen.
    Wieder wandte sie sich ab und blickte aufs Meer, um den fliegenden Fischen zuzuschauen. Er zog sie zu sich heran. Diesmal widersetzte sie sich ihm nicht. Sie verspürte keine Angst mehr. Sie war erleichtert. Irgendwo in ihrem Hirn tauchte der Gedanke auf, wie dies möglich sein kon n te. Aber sie fand keine Antwort. Die Menschen handelten nicht vernünftig in Doros Gegenwart. Wenn er nichts tat, fürchteten sie ihn. Wenn er sie bedrohte, nahmen sie seine Dr o hung ernst. Aber niemand haßte ihn deswegen oder ergriff die Flucht vor ihm.
    »Isaak ist wieder in Ordnung«, sagte er.
    »So? Was hat er gegen seinen Hunger getan?«
    »Ihn erduldet, bis er vergangen war.«
    Zu ihrer Überraschung riefen diese Worte ein Schuldg e fühl in ihr wach. Sie verspürte den törichten Drang, den jungen Mann aufzusuchen und sich dafür zu entschuldigen, daß sie ihn nicht bei sich behalten hatte. Er würde denken, daß ihre Gefühle erstorben seien. »Du solltest ihm eine Frau g e ben«, sagte sie zu Doro.
    Doro nickte gedankenverloren. »Bald«, sagte er.
    Es kam eine Zeit, da sagte Doro, sie würden sich der Küste nähern. Es war die Zeit, da die Essensvorräte verda r ben und von Maden wimmelten. Das Trin k wasser stank, das Schiff stank, und die Sklaven b e kämpften einander bis aufs Blut. Die Männer der Besatzung versuchten verzwe i felt, einige Fische zu fangen, um dem grauenvollen Eine r lei von Hartbrot und Trockenfleisch ein Ende zu machen. Die Hi t ze wurde immer unerträglicher, und kein Lüftchen regte sich. Doch mitten in dieser Zeit der Mühsal geschahen e i nige Dinge, an die Anyanwu sich bis ans Ende ihres L e bens mit großer Freude erinnern würde. Es waren Dinge, die sie Isaaks Fähigkeiten in aller Deutlichkeit erkennen ließen, und umgekehrt e r kannte er auch die ihren.
    Nach Lales Tod mied Anyanwu den jungen Mann, so gut dies auf dem begrenzten Raum eines Schiffes möglich war. Sie glaubte nämlich, er stehe dem Tod seines Bruders nicht mit ähnlicher Gleichgültigkeit gegenüber wie Doro dem Tod seines Sohnes. Doch Isaak kam zu ihr.
    Eines Tages trat er neben sie an die Reling, von wo aus sie den fliegenden Fischen zuschaute. Auch er beobachtete sie eine Zeitlang, dann lachte er scha l lend. Sie drehte den Kopf und schaute ihn fragend an. Isaak zeigte auf die See hinaus. Als sie ihren Blick wieder aufs Wasser richtete, sah sie einen der großen Fische, der hoch über der Wasserfl ä che in der Luft hing.
    Es war, als hätte das Tier sich in einem unsichtbaren Netz gefangen und versuchte, sich mit wilden Bewegungen wi e der daraus zu befreien. Aber es gab kein Netz. Es gab überhaupt nichts, was das Tier festhielt.
    Fassungslos blickte sie Isaak an. »Du?« fragte sie in u n sicherem Englisch. »Du bist das?«
    Isaak lächelte. Der Fisch schwebte unter heftigen Z u ckungen näher auf das Schiff zu. Einige der Matrosen wu r den aufmerksam und wandten sich unter wilden Rufen an Isaak. Anyanwu konnte die meisten Worte nicht verstehen, aber sie begriff, daß sie den Fisch wollten. Isaak machte eine Handbewegung, mit der er zum Ausdruck

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