Wilde Saat
als Mensch nur mühsam und unter Schmerzen erlernen konnte. Zum Beispiel, wie man so aus- und einatmete, daß die Lungen sich mit einer möglichst großen Luftmenge füllten. Wie man eine vollständige E r neuerung der Luft erreichte und vermied, daß ein Teil di e ser Luft nur in den Atemwegen hin und her geschoben wurde. Nichts von alledem war neu für sie, doch sie dachte, wieviel schneller und leichter sie all diese Dinge mit Hilfe eines kleinen Stückchens Delphinfleisch hätte erlernen können. Statt dessen hatte sie diese Erkentnisse nur deshalb gewonnen, weil es Menschen gegeben hatte, die versuc h ten, sie wie eine Katze zu erträ n ken.
Anyanwu genoß die Kraft und Schnelligkeit ihres neuen Körpers. Die größte Überraschung war für sie das geste i gerte Hörvermögen. In ihrer menschlichen Gestalt hatte sie sich schon bemüht, ihr Gehör – wie auch alle anderen Si n ne – aufs äußerste zu schärfen. Aber all das war nichts im Vergleich mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Delphins. Sie konnte jetzt die Augen schließen und nahm mit ihrem Gehör eine nur leicht verminderte Welt in sich auf. Sie konnte Laute erzeugen, die als Echo zu ihr zurüc k kamen und ihr die Geschichte der Dinge, die vor ihr lagen, erzählten. Sie hatte nie geahnt, daß es eine solche Art von Gehör geben könne. Schließlich ließ sie von sich selbst ab und wandte ihre Aufmerksa m keit den anderen Delphinen zu. Die Töne, die sie aussandten, wurden deutlich von ihr vernommen. Nicht weit von ihr schwammen sie ebe n falls neben dem Schiff her und ließen ein unentwegtes Schna t tern und Fiepsen hören. Seltsamerweise kamen ihr diese Laute immer mehr wie menschliche Laute vor – wie eine Unterhaltung in einer fremden Sprache. Langsam und z ö gernd näherte sie sich der Gruppe. Wie mochten die Tiere auf Fremde reagi e ren? Wie würden sie ein weibliches Tier aufnehmen, das einen unsicheren und zaghaften Eindruck auf sie machte? Wenn sie sich wirklich unterhielten, mu ß ten sie die Fremde für stumm oder beschränkt halten.
Einer der Delphine schwamm auf sie zu und blieb eine Zeitlang neben ihr. Mit dem ihr zugewandten Auge be o bachtete er sie aufmerksam. Es war ein männliches Tier, wie sie feststellte, und auch sie betrachtete es voller Inte r esse. Nach einer Weile schwamm es dicht an sie heran und rieb seinen Leib an dem ihren. Delphinhaut – so empfand sie – fühlte sich äußerst angenehm an. Sie war nicht schu p pig wie die Haut eines richtigen Fisches, dessen Gestalt sie zwar noch nie angenommen hatte, dessen Körper sie j e doch sehr genau kannte. Das Delphinmännchen strich e r neut an ihr entlang, dabei stieß es unentwegt schnatternde Töne aus, die sie als eine Art Anfrage verstand. Danach schwamm es davon. Sie drehte sich um, ein Blick hinüber zum Schiff zeigte ihr, daß sie beruhigt sein konnte. Sie blieb in Schiffsnähe, wenn sie sich bei den Tieren aufhielt. Sorglos schwamm sie hinter dem Männchen her.
Es hat seine Vorteile, dachte sie, wenn man ein weibl i ches Tier ist. Männliche Tiere kämpfen geg e neinander, um ein bestimmtes Revier oder um ein Weibchen. Sie konnte sich an frühere Verwandlu n gen erinnern. Als weibliches Tier war sie von einem Männchen zwar schon einmal b e drängt worden. Doch nur in ihrer Menschengestalt hatten sie Männer angegriffen und ernstlich verletzt. Daß sie ein Delphinweibchen geworden war, verdankte sie alle r dings nur dem Zustand, daß sie das Fleisch eines weiblichen Ti e res gegessen hatte. Doch dies war, wie sie fand, ein glüc k licher Zufall.
Ein sehr kleiner Delphin – es schien ein Delphinjunges zu sein – kam auf sie zu. Sie verlangsamte ihre Geschwi n digkeit und erlaubte ihm, sie näher in Augenschein zu nehmen. Schließlich rief die Mutter das Junge zurück, und sie war wieder allein. Allein – aber umgeben von Lebew e sen wie sie selbst – L e bewesen, die Anyanwus Vorstellung von Tieren so gar nicht entsprach. Zu menschlich kam ihr deren Verhalten vor. Während sie mit ihnen dahi n schwamm, schien es ihr, als weile sie bei einem a n deren Volk. Einem freundlichen Volk. Ohne Skl a venhändler mit Brandeisen und Ketten. Ohne Doro mit seinen sanften und zugleich furchtbaren Drohu n gen gegen ihre Kinder und gegen sie selbst.
Die Zeit verging. Mehrere Delphine näherten sich ihr, um sie zu berühren. Sie strichen an ihr entlang und mac h ten sich auf diese Weise mit ihr bekannt. Das Männchen, das sie als erstes berührt hatte, kam zurück, und
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