Wilde Saat
konnten. Voraussetzung dazu war natürlich eine gründliche Ken n tnis der englischen Sprache. Sie würde ihr in Zukunft mehr Zeit und Eifer widmen müssen.
Nachdem die Verwandlung beendet war, erhob sich Anyanwu, und Doro reichte ihr das schalartige Tuch, das ihr als Kleidung diente. Vor den starrenden Bl i cken der Männer band sie es um ihre Hüften. Es war Jahrhunderte her, daß sie sich anderen, nach Art u n vermählter junger Mädchen, nackt gezeigt hatte. Ein Gefühl der Scham stieg in ihr auf, doch sie kan n te Doros Absicht. Doro wünschte, daß alle auf dem Schiff wußten, über welche Kräfte sie verfügte. Wenn er schon nicht imstande war, ihnen durch Zuchtwahl ihre Dummheit zu nehmen, dann mußte die Angst sie ihnen austreiben.
Anyanwu blickte in die Runde. Nicht die kleinste Ande u tung auf ihrem Gesicht verriet etwas von dem Aufruhr in ihrem Inneren. Warum sollten die Mä n ner auch erfahren, was sie fühlte! Sie las Scheu und Respekt in ihren Mienen, und zwei, die in Anyanwus Nähe standen, wichen unwil l kürlich vor ihr zurück, als sie ihrem Blick begegneten. D o ro trat zu ihr und umfaßte ihre Hüfte, und es gelang An y anwu, sich zu entspannen. Isaak ließ ein lautes Lachen h ö ren, und damit löste sich die Spannung, die über der Szene lag. Er wandte sich Doro zu und sprach mit ihm. Doro l ä chelte.
In Anyanwus Sprache sagte er: »Was für Kinder wirst du mir schenken!« Sie war überrascht von der Erregung, die in seiner Stimme mitschwang. Sie erinnerte Anyanwu daran, daß es sich bei ihm nicht nur um den Wunsch eines gewöhnlichen Mannes nach Kindern handelte. Der Geda n ke an ihre eigenen Kinder tauchte auf. Stark und strotzend vor Gesundheit, waren sie dennoch kurzlebig und ohne auße r gewöhnliche Begabungen. Sie waren wie die Kinder jeder anderen Frau.
Würde sie wirklich imstande sein, Doro das zu geben, was sie selbst sich schon so lange ersehnte – Kinder, die nicht sterben würden?
»Die Kinder, die du mir schenken wirst, Mann«, flüste r te sie, doch der fragende Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Und eigenartig, Doro verriet Anzeichen einer tiefwurzel n den Unsicherheit. Sie sah ihn an und erkannte den sorgenvo l len Ausdruck in seinem Gesicht. Gedankenverloren schaute er aufs Meer, wo die De l phine ihr faszinierendes Spiel wieder aufgenommen hatten. Einige von ihnen genau vor der Bu g welle des Schiffes. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Was hast du?« fragte sie.
Er wandte den Blick von den spielenden Delphinen ab. E i nen Lidschlag lang war sein Gesichtsausdruck so voller Anspannung und voller Wildheit, daß sie glaubte, er hasse diese Tiere, oder er beneide sie, weil es ihr möglich war, sich in deren Gesellschaft aufzuhalten.
»Was hast du?« wiederholte sie.
Es schien, als zwinge er sich zu einem Lächeln. »Nichts«, antwortete er. Beruhigend zog er ihren Kopf an seine Schulter und strich über ihr dichtes, frisch gewachs e nes Kraushaar. Beunruhigt duldete sie die Liebkosung und fragte sich voller Sorge, warum er sie belog.
VI
Anyanwu besaß eine zu große Macht.
Obwohl ihre Fähigkeiten ihn aufs höchste beeindruc k ten, war sein erster Gedanke gewesen, sie zu töten. Er war es nicht gewohnt, Menschen am Leben zu lassen, die sich an irgendeinem Punkt seiner Kontrolle entzogen. Doch wenn er sie tötete und ihren Körper übernahm, würde er höc h stens zwei oder drei Kinder von Anyanwus Art zur Welt bringen können. Danach würde er gezwungen sein, ihren Körper gegen einen neuen auszutauschen. Ihre Lan g lebi g keit würde sich auf ihn nicht übertragen. Bei seinen Übe r gängen erwarb er nicht das Können, die speziellen Fähi g keiten seiner Opfer ebenfalls auszuüben. Er bewohnte Kö r per. Er brauchte Leben auf. Das war alles. Hätte er Lale getötet, würde er damit nicht die Gabe der Willens- und Gedankenbeeinflussung, die dieser Mann besaß, überno m men haben. Er wäre nur in der Lage gewesen, diese Fähi g keit an die Kinder von Lales Körper weiterzugeben. Und wenn er An y anwu tötete, erwarb er dadurch nicht die Gabe der Gestaltsveränderung, die Gabe der Langlebigkeit oder ihre heilenden Kräfte. Er würde lediglich seine eigenen besonderen Fähigkeiten mit in ihren kleinen, zähen Körper hinübergenommen haben, bis er aufs neue vom Hunger angesprungen wurde – einem Hunger, den weder Anyanwu noch Isaak jemals b e greifen würden. Dieser Hunger würde ihn so lange quälen, bis er nicht mehr anders konnte, als sich neue
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