Wilde Saat
Wasseroberfläche.
Mit tiefer, fremdartiger Stimme sprach er zu ihr, nannte mehrmals ihren Namen, den sie zunächst nicht verstand. Dann richtete sie sich zu ihrer Verwunderung auf der Schwanzflosse stehend aus dem Wasser auf. Sekundenlang stand sie so, deutete, so gut sie konnte, ein Kopfnicken an. Dann schwamm sie auf ihn zu, und er ließ sich langsam ins Wasser absinken. Sie schwamm neben ihn, nahe genug, daß er sie berühren konnte. Er griff nach ihrer Rücke n finne und bewegte die Lippen. Sie horchte anges t rengt. Beim zweitenmal verstand sie, was er sagte.
»Doro will, daß du zum Schiff zurückkommst.«
Das war’s also. Traurig sah sie zu den Delphinen hin ü ber, versuchte ihr Männchen unter ihnen auszumachen. Sie entdeckte es ganz in ihrer Nähe. Wie sehr wünschte sie, wi e der zu ihm zurückzukehren und bei ihm zu bleiben – eine Weile wenigstens. Die Paarung würde ihr gutgetan haben. Sie fragte sich, ob Doro gewußt oder geahnt hatte, was sie zu tun im Begriff gewesen war. Hatte er Isaak de s halb zu ihr geschickt?
Es spielte keine Rolle. Isaak war hier, und sie mußte ihn von hier fortlocken, bevor er seine Aufmerksamkeit den a n deren Delphinen zuwandte, die so verlockend nahe geko m men waren. Anyanwu schwamm zum Schiff zurück. Sie ließ es zu, daß Isaak sich an ihrer Rückenflosse festhielt. Es machte ihr nichts aus, ihn durchs Wasser zu zi e hen.
»Ich gehe als erster an Bord«, sagte er, als sie das Schiff erreichten. »Ich werde dich dann hochhi e ven.«
Er erhob sich aus dem Wasser und schwebte auf das Schiff. Er ließ sich auf den Deckplanken niedersi n ken. Er konnte fliegen, ohne Flügel und mit derse l ben Leichtigkeit, mit der er das Schiff aus dem Sturm hinausgelenkt hatte. Sie fragte sich, wieso ein Mensch mit seinen Fähigkeiten krank we r den oder auf eine Frau angewiesen sein konnte. Anyanwu schreckte aus ihren Gedanken auf, als etwas sie ergriff, fest, doch nicht schmerzvoll, und sie aus dem Wa s ser hob. Es war anders, als sie es sich vorgestellt hatte, nicht so, als werde sie von einem Netz oder von menschl i chen Armen an Deck gezogen. Die Kraft, die auf sie ei n wirkte, hinterließ an keiner Stelle ihres Körpers ein Druc k gefühl. Es war, als werde sie von der Luft, die sie umgab, getragen. Ihr ganzer Körper befand sich gleichzeitig in e i nem sie fest umschließenden Panzer, aus dem es kein En t rinnen für sie gab.
Sie machte keinen Versuch, sich von der auf sie einwi r kenden Kraft zu befreien. Sie erinnerte sich an das oh n mächtige Bemühen des Delphins am Tag zuvor und an die Geschwindigkeit, mit der das riesige Schiff in der Stur m nacht – von Isaaks Stärke angetrieben – durch die aufg e peitschten Wellen gegli t ten war. Mit all ihrer Körperkraft würde sie nichts dagegen vermögen. Außerdem vertraute sie dem Jungen. Er ging sanfter mit ihr um als mit dem a n deren Delphin, dessen Fleisch sie gegessen hatte. Er winkte die Besa t zungsmitglieder zur Seite, ehe er sie vorsichtig auf Deck absetzte.
Doro, Isaak und die Matrosen verfolgten in atemloser Spannung, wie sie sich wieder Füße und Beine wachsen ließ. Bei der Umwandlung in einen Delphin mußte sie ihre Beine fast völlig einschrumpfen la s sen. Geblieben waren nur die Hüftknochen, über die auch ein Delphin-Leib ve r fügte. Dann begann sie mit der Verwandlung des übrigen Körpers. Langsam nahmen die Seitenflossen die Form menschlicher Arme an. Ihr ganzer Leib wurde schlanker, und die winzigen, hochempfindlichen Delphinohren ve r größerten sich, um wieder zu weniger leistungsstarken Menschenohren zu werden. Ihre Nase bildete sich zurück, der stumpfe, schnabelartige Kopf formte sich zu einem G e sicht. Rückenflosse und Schwanz verschwanden. Gleic h zeitig zur äußeren Umwandlung vollzogen sich innere Ve r änderungen, die niemand außer ihr selbst wahrzunehmen vermochte. Die graue Delphinhaut wechselte Farbe und Beschaffenheit. Während dieses Vorgangs kam ihr die Fr a ge, was sie zu tun hatte, wenn sie sich eines Tages en t schließen würde, dieses Land, zu dem sie unterwegs waren, zu verlassen. Mit dieser Frage würde sie sich später noch eingehend befassen und eine Reihe von Versuchen unte r nehmen müssen. Es war in jedem Falle nützlich, wenn sie über einige Möglichkeiten verfü g te, sich zu tarnen. Schon allein, um sich vor den Menschen verbergen zu können, oder auch um Di n ge über sie in Erfahrung zu bringen, die sie ihr nicht mitteilen wollten oder nicht mitteilen
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