Wilde Saat
besonderen Fähigkeiten bei ihren Kindern zu finden waren. Sie hatten nicht mehr von ihrer Mutter mitbekommen, als ein gewisses Potential gesunden Blutes, das vielleicht nach mehreren Generationen der I n zucht diese besonderen Fähigkeiten wieder hervorbrachte. Vie l leicht erlitt er aber auch einen Fehlschlag mit ihnen. Vielleicht machte er die Erfahrung, daß Anyanwu nicht zu vervielfältigen war oder daß es Langlebi g keit immer nur zusammen mit der Fähigkeit der G e staltveränderung gab. Vielleicht. Aber all diese Ergebnisse, ob positiv oder neg a tiv, lagen generati o nenweit in der Zukunft.
Unterdessen mußte er alles tun, daß Anyanwu nie etwas von den Grenzen erfuhr, die seiner Macht g e setzt waren. Daß sie nie dahinterkam, wie sie ihm entfliehen, ihn me i den, sich von ihm freimachen konnte. Das hieß: Er durfte ihre Verwandlungen nicht energischer einschränken als bei seinen Kindern die Ausübung ihrer besonderen Fähigke i ten. Vor gewöhnlichen Menschen alle r dings durfte sie ihr Können nicht zeigen, durfte ni e manden aus seinem Volk gewalttätig gegenübertr e ten, es sei denn, sie handelte in Notwehr. Darüber hinaus mußte er dafür sorgen, daß sie ihn fürchtete, ihm gehorchte und ihn für fast allmächtig hielt.
So erlaubte er Anyanwu und Isaak am Ende der Reise, sich in wilden, ekstatischen und ans Unvorstellbare gre n zenden Spielen auszutoben, ihre ungewöhnlichen Eige n schaften frei zu nutzen und sich als die Hexenkinder zu benehmen, die sie waren. Wenn der Wind stark genug we h te und Isaak nicht gebraucht wurde, um das Schiff anzu t reiben, tummelten sie sich im Meer. Anyanwu als De l phinwei b chen, das sich von Isaak verfolgen und fangen ließ. Ein anderesmal stieg Anyanwu als Vogel in die Lüfte, und Isaak jagte hinter ihr her, wobei er Kunststücke vol l führte, die Doro nie zugelassen hätte, wenn sie sich nicht auf dem Meer befu n den hätten. Hier kam nämlich niemand auf die Idee, den Jungen mit einer Kugel aus dem Himmel herunterzuholen. Hier war kein Mob, der Jagd auf ihn machte und versuc h te, ihn als Hexer zu verbrennen. Isaak hatte sich an Land so viel Zurückhaltung aufzuerlegen, daß Doro ihm nun keine Fesseln anlegen wollte.
Doro machte sich Sorgen wegen Anyanwu, wenn sie a l lein ihre abenteuerlichen Streifzüge unter Wasser unte r nahm. Er fürchtete, sie könnte von einem Hai oder sonst einem Meeresräuber angefallen werden. Seine Befürchtung sollte sich schließlich bewahrheiten, doch der Angriff e r folgte, als Anyanwu sich dicht an der Oberfläche befand. Sie trug lediglich eine leichte Wunde davon, die sie auf der Stelle heilte. Es gelang ihr, den Hai an einer sehr empfin d lichen Stelle zu schwächen, indem sie den Kopf mit großer Gewalt gegen eine seiner Kiemen rammte. Außerdem g e lang es ihr – äußerst ungewöhnlich für einen Delphin –, die Zähne in den Leib des Hais zu schlagen und ihm ein großes Stück Fleisch herausz u reißen. Augenblicklich verwandelte sie sich selbst in einen Hai. Doch diese Umwandlung stel l te sich als unnötig heraus. Der Angreifer war tödlich ve r letzt und versuchte zu entkommen. Aber die Umwan d lung war vollzogen. Vollzogen in viel zu kurzer Zeit. Anyanwu verspürte Hunger. Mit unvorstellbarer Wildheit und in S e ku n denschnelle riß sie den Gegner in Fetzen und schlang das blutige Fleisch gierig in sich hinein. Als sie wieder zur Frau wurde, vermoc h te Doro nicht die Spur einer Wunde an ihr zu erke n nen. Sie wirkte schläfrig und zufrieden, und nichts erinnerte an das zitternde, gequälte Wesen, das er nach Lales Tod vorgefunden hatte. Diesmal war ihr Hunger schnell genug befriedigt worden. Offensic h tlich war das entscheidend für sie.
Anyanwu machte sich zur Beschützerin der Delphine. Sie ließ nicht zu, daß Isaak noch weitere Tiere an Bord ho l te, um sie zu schlachten. »Sie sind wie Menschen«, b e schwor sie ihn in ihrem improvisie r ten Englisch. »Sie sind nicht wie Fische!« Sie dro h te, ihn nie wieder anzusehen, wenn er noch eins der Tiere töten würde.
Und Isaak, der Delphinfleisch liebte, brachte keinen ei n zigen Delphin mehr an Bord. Doro hörte den g e murmelten Protest des Jungen, lächelte und schwieg. Isaak hörte den Protest der Besatzung, zuckte die Schultern und gab ihnen einen anderen Fisch. Er verbrachte seine knapp bemessene Zeit weiterhin mit Anyanwu, gab ihr Unterricht in En g lisch, schwamm oder flog mit ihr und suchte ihre Nähe, so oft er konnte. Doro bestärkte ihn
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