Wilde Saat
auswählte.«
Sie streifte ihn mit einem raschen Blick. Machte er sich lustig über sie, indem er von ihrer Macht sprach und ihr gleichzeitig klarmachte, daß sie seiner Macht unterlegen war? Doch seine Aufmerksamkeit galt nicht mehr ihr, so n dern der Ankunft eines kleinen, sehr schnellen Bootes. Als es neben der Silver Star anlegte, erhob sich dessen einziger Passagier, bel a den mit mehreren Paketen und Päckchen, senkrecht in die Luft und ließ sich zum Schiff hinübertre i ben. Isaak! Anyanwu fiel plötzlich ein, daß der Junge w e der Segel noch Ruder benützt hatte, um das kleine Schiff vorwärtszubewegen.
»Du bist unter Fremden!« wies Doro ihn scharf z u recht. Der Junge zuckte zusammen und setzte mit einem harten Ruck auf Deck auf.
»Kein Mensch hat mich gesehen«, verteidigte er sich. »Aber schau her, wenn du schon davon sprichst, daß wir hier unter Fremden sind.« Er packte eins der Pakete aus, die er mit an Bord gebracht ha t te, und Anyanwu sah, daß es einen langen, weiten, glänzend blauen Unterrock enthielt. Es war eins dieser Kleidungsstücke, wie es die Sklave n frauen auf dem Schiff bekommen hatten, als es ihnen auf der Fahrt nach Norden zu kalt geworden war. Anyanwu vermochte sich vor der Kälte zu schützen ohne einen so l chen Stoffetzen, wie die weißen Frauen ihn tragen moc h ten. Sie hatte ihren Unterrock zerschnitten und sich einen Lendenschurz daraus gemacht. Der G e danke, den Körper so vollständig einzuhüllen, mi ß fiel ihr. Verweichlichung nannte sie das. Überdies war sie der Meinung, die Sklave n frauen wirkten l ä cherlich in diesem Kleidungsstück.
»Du lebst jetzt in der Zivilisation«, klärte Isaak sie auf. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen, Kleider zu tragen, wie es alle hier tun.«
»Was ist Zivilisation?« fragte sie.
Isaak sah Doro unbehaglich an, und Doro lächelte. »Nicht so wichtig!« sagte Isaak nach einigem Zögern. »Zieh es einfach nur an, damit wir sehen, wie du in Kle i dern au s siehst!«
Anyanwu berührte den Unterrock mit den Finge r spitzen. Der Stoff fühlte sich glatt und kühl an – nicht wie dieses derbe, rauhe Tuch, aus dem die Unterröcke der Sklave n frauen gemacht waren.
»Seide«, sagte Isaak. »Das Beste, was es gibt.«
»Wem hast du das gestohlen?« wollte Doro wissen.
Isaak wurde dunkelrot unter der sonnengebräunten Haut und starrte seinen Vater an.
»Hast du es gestohlen, Isaak?« fragte Anyanwu.
»Ich habe Geld dafür dagelassen«, verteidigte sich Isaak. »Ich traf jemanden, der genau Anyanwus F i gur hat. Ich habe ihr zweimal so viel dafür gegeben, wie das Ding wert ist.«
Unsicher blickte Anyanwu zu Doro auf. Als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, wich sie vor ihm z u rück.
»Wenn man dich jemals bei einem Kunststück wie di e sem erwischen sollte«, sagte Doro unwillig, »werde ich zu s chauen, wie sie dir die Schlinge um den Hals legen.«
Isaak fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Kann ich verstehen«, murmelte er und legte den Unterrock in Anyanwus Hände. »Frage ist nur, ob sie das fertig b ringen.«
Doro schüttelte den Kopf. In barschem Ton sprach er e i nige Worte, die Anyanwu nicht verstand. Wieder zuckte Isaak zusammen, blickte zu Anyanwu hinüber, um festzu s tellen, ob sie Doros Worte versta n den hatte. Sie schaute ihm fest in die Augen, und ein schwaches Lächeln legte sich um seine Lippen. Ihr Nichtbegreifen schien ihn zu erleic h tern. Doro nahm Isaak die Pakete ab. »Komm«, sagte er zu Anyanwu auf Englisch, »wir probieren die Kleider an.«
»Lieber würde ich mich in ein Tier verwandeln und nichts tragen«, antwortete sie leise und zuckte z u sammen, als er sie mit einer heftigen Bewegung auf die Einstiegsl u ke zu s chob.
In der Kajüte schien Doro sich zu entspannen. Sein Ä r ger schwand. Vorsichtig packte er die übrigen P a kete aus. Ein Rock, eine Damenweste, Hut, Unterwäsche, Strümpfe, Schuhe und einige einfache Schmuckstücke kamen zum Vorschein.
»Noch anderer Weiberkram!« sagte Anyanwu und ve r fiel unwillkürlich in ihre Muttersprache.
»Er gehört jetzt dir«, erwiderte Doro. »Isaak sagte die Wahrheit. Er hat dafür bezahlt.«
»Trotzdem hat er die Frau nicht gefragt, ob sie ihm die Sachen verkaufen wollte.«
»Nein. Er hat ein unnötiges Risiko auf sich geno m men, der Dummkopf. Sie hätten ihn töten, gefangennehmen und vielleicht sogar wegen Hexerei hinric h ten können!«
»Aber es wäre ein leichtes für ihn gewesen, ihnen zu entfliehen!«
»Vielleicht. Aber
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