Wilde Saat
Du hast doch gesehen, wie ich mein Haar wachsen ließ.«
»Ich wußte nicht, ob du es wachsen ließest oder ob es dasselbe Haar war.« Er reichte ihr einen Spiegel. »Hier, schau dich an!«
Begierig griff sie danach. Seit er ihr das erste Mal einen Spiegel gezeigt hatte, war sie ganz verrückt auf ein solches Wunderglas. Er hatte versprochen, ihr eins zu kaufen.
Nun sah sie, daß er ihr Haar zu einer weichen, runden schwarzen Wolke geformt hatte. »Es wäre besser doch g e flochten«, sagte sie. »Eine Frau in dem Alter, in dem ich erscheine, würde ihr Haar zu Zö p fen flechten.«
»Ein andermal.« Sein Blick ruhte auf zwei kleinen Goldschmuckstücken. »Entweder hat sich Isaak deine O h ren nicht angesehen, oder er glaubt, es sei keine Schwieri g keit für dich, deine Ohrläppchen mit zwei kleinen Löchern zu versehen, um diese Ohrri n ge darin zu befestigen.«
Anyanwu betrachtete die Ohrgehänge, die winzigen B ü gel, mit denen sie an den Ohren befestigt werden mußten. Sie besaß bereits eine goldene Perlenhalskette. Sie war das einzige Ding, das sie gerne an ihrem Körper trug. Sie stel l te fest, daß die beiden Oh r ringe ihr auch gefielen.
»Zeig mir, an welcher Stelle die Löcher sein sollen«, sagte sie.
Er hielt ihr die Ohrringe an die Ohrläppchen – dann zuckten seine Hände plötzlich zurück.
»Was hast du?« fragte sie erstaunt.
»Nichts. Ich … ich nehme an, es ist nur, weil ich dich noch nie berührt habe, während du dich verwandelst. Die B e schaffenheit deiner Haut ist … ist irgendwie anders.«
»Ist nicht auch die Beschaffenheit des Tons vor dem Brennen anders als nachher?«
»Ja.«
Sie lachte. »Faß mich jetzt an! Die Fremdheit ist nicht mehr da.«
Zögernd gehorchte er. Das, was er berührte, schien ihm diesmal wieder vertraut zu sein. »Es war nicht unang e nehm«, sagte er. »Es kam nur so unerwartet.«
»Aber nicht fremd«, sagte sie. Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Sie wandte den Blick zur Seite und läche l te.
»Ja und nein. Jedenfalls habe ich noch nie …« Er brach ab und fragte sich, was der Ausdruck ihres Gesichtes zu b e deuten hatte. »Was willst du damit sagen, Frau?«
Anyanwu lachte dunkel. »Ich wollte dir ein Vergn ü gen bereiten. Du hast mir gesagt, wie sehr ich dir gefalle.« Sie hob den Kopf. »Ich habe einmal einen Mann geheiratet, der sieben Frauen besaß. Nach u n serer Hochzeit ging er nur noch selten zu den and e ren.«
Langsam wich der Ausdruck des Mißtrauens dem der Belustigung. Er trat zu ihr und begann damit, die Bügel der Ohrringe durch die winzigen neuen Löcher in ihren Oh r läppchen zu ziehen. »Eines Tages«, murmelte er geda n kenverloren, »werden wir uns beide gleichzeitig verwa n deln. Ich werde die Gestalt einer Frau annehmen und h e rausfinden, ob du als Mann ein besonders begabter Liebh a ber bist.«
»Nein!« Sie riß sich von ihm los und schrie gleic h zeitig auf vor Schmerz und Überraschung, als diese unerwartete B e wegung ihr Ohrläppchen verletzte. Sie ließ den Schmerz abklingen und heilte die Ve r letzung. »So etwas werden wir nicht tun!«
Er lächelte ein wenig herablassend, hob den Ohrring auf, der zu Boden gefallen war, und befestigte ihn an ihrem Ohr.
»Doro, das werden wir nicht tun!«
»Gut. Es war nur ein Gedanke. Ich glaubte, es würde dir Spaß machen.«
»Nein!«
Er zuckte die Schultern.
»Es wäre abscheulich«, stieß sie leise hervor. »Es wäre widernatürlich! Ein Greuel!«
»Gut!« wiederholte er.
Sie schaute ihn an, um zu sehen, ob er lächelte. Und er lächelte tatsächlich. Einen Moment lang wurde sie schwankend und fragte sich, wie solch ein Tausch sein mochte. Sie wußte, daß sie in der Lage war, sich in einen Mann zu verwandeln. Aber vermochte di e ser Mann vor ihr wirklich wie eine Frau zu empfi n den? Was geschah, wenn … Nein!
»Ich werde Isaak das Kleid vorführen«, sagte sie kühl.
Er nickte. »Geh!« sagte er, und das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht.
Als Anyanwu in der ungewohnten Aufmachung vor Isaak hintrat, erkannte sie in seinen Augen etwas, das sie vor e i ner anderen Art von Greuel warnte. Der Junge war ang e nehm, und sie mochte ihn als Stie f sohn. Sie machte jedoch immer mehr die Festste l lung, daß Isaak eine andere Form der Beziehung zwischen ihnen vorgezogen hätte. In einer weniger begrenzten Umgebung wäre sie ihm aus dem Weg gegangen. Hier auf dem Schiff wählte sie die leichtere, a n genehmere Möglichkeit: Sie duldete seine Gesel l
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