Wilde Saat
schaft. Doro hatte sehr oft keine Zeit für sie, und die Skl a ven, die ihre Macht kennengelernt hatten, fürchteten sich vor ihr. Sie alle – Okoye und Udenkwo nicht ausgenommen – b e gegneten ihr mit großer Förmlichkeit und Eh r furcht und mieden sie, so gut es möglich war. Der Umgang mit Doros übrigen Söhnen war ihr verboten, und die Zeit mit den a n deren Mitgliedern der Besatzung zu verbringen, wäre nicht ’schicklich gewesen. Hinzu kam, daß Anyanwu nur wenige Verpflichtungen an Bord hatte. Das Kochen und das Sa u berhalten der Räume wurde von anderen b e sorgt. Es gab kein Baby, das sie zu versorgen hatte, keine Märkte, die sie besuchen konnte. Während mehrerer ihrer Ehen war sie eine erfolgreiche Händlerin gewesen. Die Erzeugnisse ihres Gartens, die Töpferwaren und Handarbeiten, die sie anfe r tigte, waren von ausgesuchter Qualität. Ihre Ziegen und Hühner gesund und wohlgenährt.
Hier auf dem Schiff gab es nichts Derartiges. Nicht ei n mal Kranke, um die sie sich hätte kümmern können. Keine Gottheiten, die es zu beschwören galt. Sklaven wie Matr o sen erfreuten sich bester Gesun d heit. Hier und da litt einer der Sklaven an der Se e krankheit, wie Doro es nannte, und sie konnte man nicht eigentlich als Krankheit bezeichnen. Um nicht vor Langeweile umzukommen, hatte Anyanwu die Gesellschaft des Jungen geduldet. Doch nun stellte sie fest, daß es höchste Zeit war, damit Schluß zu machen. Es war unverantwortlich, Isaak zu quälen. Dennoch tat es ihr gut, die Bewunderung in seinen Augen zu erkennen. Er fand sie schön. Auch jetzt noch, obwohl sie in Bergen von Kleidern steckte. Sie hatte befürchtet, jeder andere außer Doro we r de sie in dieser Aufmachung lächerlich finden.
»Danke für diese Sachen«, sagte sie leise in En g lisch.
»Du bist noch viel schöner darin als sonst«, erwide r te er hingerissen.
»Ich komme mir vor wie eine Gefangene. Eingeengt und gefesselt von Kopf bis Fuß.«
»Du wirst dich daran gewöhnen. Jetzt bist du eine ric h tige Lady.«
Anyanwu dachte über seine Worte nach. »Was heißt das: eine richtige Lady?« fragte sie stirnrunzelnd. »Was war ich denn vorher?«
Isaak wurde rot. »Ich meine, du siehst aus wie eine New Yorker Lady.«
Seine Verlegenheit zeigte ihr, daß er etwas Falsches g e sagt hatte. Zunächst hatte sie geglaubt, sein Englisch nicht ve r standen zu haben. Nun aber stellte sie fest, daß sie es nur zu gut verstanden hatte.
»Sag mir, was ich vorher war!« verlangte sie. »Und e r kläre mir das Wort, das du eben gebraucht hast: Zivilisat i on! Was ist Zivilisation?«
Er seufzte, dann begegnete sein Blick dem ihren, nac h dem er eine Zeitlang an Anyanwu vorbei zum Hauptmast hin ü bergestarrt hatte. »Vorher warst du Anyanwu«, sagte er. »Mutter von ich weiß nicht wie vielen Kindern, Priest e rin deines Volkes, eine geachtete und angesehene Frau de i ner Stadt. Doch für die Menschen hier würdest du nur eine Wilde sein. Eine Art wildes Tier, wenn sie dich nur mit deinem Tuch bekleidet sehen würden. Zivilisation ist die Weise, wie ein Volk lebt. Unzivilisiertheit ist die Weise, wie die anderen leben.« Er lächelte zaghaft. »Du bist schon ein Chamäleon, Anyanwu. Du verstehst, was ich sage!«
»Ja.« Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Aber wie ist es möglich, daß in einem Land, in dem die meisten Menschen Weiße und die Schwarzen – außer wen i gen Ausnahmen – alle Sklaven sind, ein paar arms e lige Stücke Stoff aus mir eine ›richtige Lady‹ m a chen?«
»Es ist möglich«, sagte er rasch. »In Wheatley läßt man mich in Ruhe, obwohl ich ein Weißer, ein Schwarzer und ein Roter zugleich bin.«
»Aber du siehst aus wie ein ›richtiger Mann‹.«
Er wand sich unter ihrem Blick. »Ich bin nicht so wie du«, sagte er. »Ich kann mein Aussehen nicht verändern.«
»Nein«, gab sie nachdenklich zu.
»Und es ist auch nicht so wichtig. Wheatley ist Doros am e rikanische Siedlung. Doro schafft dort so viele Leute hin, wie er bei seinen reinrassigen Fam i lien unterbringen kann. Ein gewaltiges Sammelbecken verschiedenartigster Menschen. Niemand käme auf die Idee, sich über das Au s sehen und die Hau t farbe des anderen Gedanken zu machen. Sie haben keine Ahnung, mit wem Doro sie paaren wird – oder wie ihre Kinder einmal aussehen werden.«
Anyanwu blickte belustigt. »Und die Leute lassen sich von Doro vorschreiben, wen sie heiraten sollen, nicht wahr?« fragte sie. »Geschieht es denn nie, daß einmal j e mand
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