Wilde Saat
dabei hätte er wahrscheinlich einige Le u te töten müssen. Für was, frage ich dich?« Doro reichte ihr den Rock.
»Sorgst du dich um so etwas?« fragte sie. »Obwohl du selbst mit solcher Leichtigkeit tötest?«
»Ich sorge mich um mein Volk«, entgegnete er. »Jedes Hexenkunststück, das jemand aus reinem Übermut vol l führt, kann viele Gefahren bringen. Wir alle sind Hexe n künstler in den Augen gewöhnlicher Menschen, und ich bin der einzige, den sie nicht t ö ten können. Ich sorge mich sehr um meinen Sohn. Ich möchte nicht, daß Isaak durch seine e i gene Schuld ein Gebrandmarkter wird. Ich kenne ihn. Er ist wie du. Er würde töten und danach leiden und vergehen vor Scham und Schuldgefühlen.«
Sie lächelte, legte eine Hand auf seinen Arm. »Es ist seine Jugend, die ihn so übermütig macht. Er ist ein guter Junge. Er gibt mir Hoffnung, was unsere Ki n der betrifft.«
»Er ist kein Junge mehr«, sagte Doro. »Er ist fünfun d zwanzig. Mach dir klar, daß er ein Mann ist.«
Sie zuckte die Achseln. »Für mich ist er ein Junge. Und für dich sind wir beide Kinder, er und ich. Ich habe ges e hen, wie du uns zuschautest. Du hattest das Gesicht eines al l wissenden Vaters.«
Doro lächelte, ohne die Wahrheit ihrer Worte zu bestre i ten. »Leg dein Tuch ab!« befahl er. »Und zieh dich an.«
Sie gehorchte. Voller Abneigung betrachtete sie die neuen Kleider.
»Gewöhne dich an diese Sachen«, sagte er und half ihr beim Ankleiden. »Ich bin oft genug eine Frau gewesen, um zu wissen, wie unbequem Frauenkle i der sein können. Aber dies hier sind holländische Kleider und nicht so knapp und einengend wie die englischen.«
»Was ist holländisch?«
»Die Holländer sind ein Volk – wie die Engländer. Sie sprechen eine andere Sprache.«
»Weiße?«
»Ja. Nur eine andere Nationalität – ein anderer Volk s stamm. Wenn ich eine Frau sein müßte, ich glaube, ich würde lieber eine Holländerin sein als eine Engländerin.«
Sie betrachtete seinen hochgewachsenen, ebenholzfa r benen Männerkörper. »Es ist schwer, zu glauben, daß du jemals eine Frau gewesen bist.«
Er zuckte die Achseln. »Für mich wäre es schwer gew e sen, mir dich als Mann vorzustellen, hätte ich es nicht mit eig e nen Augen gesehen.«
»Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Du wirst eine schlec h te Frau abgeben, wie immer dein Aussehen auch sein wü r de. Ich I möchte dich nicht als Frau sehen.«
»Du wirst es trotzdem müssen. Früher oder später. Komm, ich zeige dir, wie man das festmacht.«
Fast hätte sie vergessen, daß er keine Frau war. Er half ihr in die verschiedenen Kleidungsstücke, trat immer wi e der einen Schritt zurück, um sie mit kritischen Blicken zu begutachten, und sagte mehrmals voller Stolz, daß Isaak einen guten Geschmack g e zeigt habe. Die Kleider paßten ausgezeichnet. Anyanwu hatte den Verdacht, daß Isaak nicht nur seine Augen benutzt hatte, um die Maße und Formen ihres Körpers kennenzulernen. Der Junge hatte sie hochgehoben, in die Luft geschleudert und wieder aufg e fangen, ohne seine Arme und Hände zu benu t zen. Doch wer wußte, was alles er vermochte mit seiner außergewöh n lichen Fähigkeit. Sie fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen b e gann. Ja, wer konnte das wissen! Sie faßte den En t schluß, dem Jungen in Z u kunft ihr gegenüber nicht mehr so viele Freiheiten im Gebrauch seiner Fähigkeiten zu gesta t ten.
Doro schnitt ihr an einigen Stellen das Haar etwas kü r zer und kämmte es mit einem Holzkamm. Der Gedanke, daß Doro ihr Haar kämmte, ließ sie kichern wie ein junges Mädchen.
»Kannst du es mir auch flechten?« fragte sie ihn. »Ich denke, diese Kunst beherrschst du ebenfalls.«
»Natürlich kann ich das«, antwortete er. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, betrachtete sie eingehend, drehte ihren Kopf, um sie aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen. »Aber ich will nicht«, entschied er dann. »Du siehst schöner aus mit off e nem Haar. Ich habe lange bei einem Inselvolk gelebt, dort tragen die Frauen ihr Haar so wie du.« Er stoc k te, dann fuhr er fort: »Was machst du mit deinem Haar, wenn du dich verwandelst? Verändert sich dein Haar ebenfalls?«
»Nein, ich nehme es in mich hinein. Andere Leb e wesen haben eine andere Art von Haaren. Ich füttere mich gleic h sam damit. Das gleiche gilt für meine Fingernägel und alle anderen Teile meines Körpers, die ich bei einer Umwan d lung nicht gebrauchen kann. Später dann erzeuge ich sie wieder aufs neue.
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