Wilde Saat
deine Schmerzen.«
»Du liebst uns nicht.«
»Nein!« Er spürte, wie sie zusammenzuckte. »Nicht alle von euch.«
»Mich denn?« flüsterte sie furchtsam. »Liebst du mich?«
Die Lieblingsfrage seiner Töchter – nur seiner Töc h ter. Seine Söhne hofften, daß er sie liebte, aber sie fragten ihn nicht. Vielleicht hatten sie nicht den Mut dazu. Doch dieses Mädchen hier …
Als sie sich noch gesund fühlte, bevor die Übergang s phase begann, hatte sie Augen wie die ihrer Mutter, klare, leuc h tende braune Kinderaugen. Sie war feingliedriger als Anyanwu, die Handgelenke und Fußknöchel waren zarter, das Jochbein ausge p rägter. Sie war die Tochter eines von Isaaks ält e ren Söhnen, den er von einer Indianerin hatte – einer Wildsaatfrau, die Gedanken lesen und in weit entfer n te geschlossene Räume blicken konnte. Die I n dianer waren reich an ungenutzten Wildsaatme n schen, die sie zu dulden versuchten oder gar als He i lige verehrten. Aber auch sie würden eines Tages von der Zivilisation eingeholt werden. Und die We i ßen würden ihnen klarmachen, daß alle diese Dinge, wie das Hören von Stimmen, das Sehen von G e sichtern, das Bewegen unbeseelter Gegenstände, all die außergewöhnlichen Fähigkeiten, Gefühls- und Sinne s wahrnehmungen etwas Gefährl i ches, Böses oder zumindest Undenkbares seien. Dann würden auch sie alle Andersart i gen ausmerzen und vernichten. Auf diese Weise würden sie innerlich bald verarmen, würden sich um alles bringen, was über die Welt der fünf Sinne hinausging. Ihre Kinder und Kindeskinder würden aller Waffen beraubt sein, mit denen sie D o ros Volk entgegentreten konnten. Und die Zeit der Auseinandersetzung wü r de kommen. In nicht allzu ferner Zukunft. Dessen war sich Doro sicher. Dieses Mädchen Nweke, u n gewöhnlich und kostbar, sowohl durch das Blut ihres Vaters als auch durch das ihrer Mutter, würde diesen Tag vielleicht noch erleben. Wenn es ihm, Doro, jemals gelungen war, mit Anyanwu einen langlebigen Nachko m men zu züc h ten, dann war es dieses Mädchen. Er war ihrer außergewöhnlich sicher. Im Laufe der Zeit hatte er die E r fahrung machen mü s sen, daß es über Erfolg oder Mißerfolg einer Züchtung keine Gewißheit gab, bis der Übergang endgü l tig abgeschlossen war. Aber die Ströme, die von Nweke ausgingen, waren zu stark, um einem Zweifel Raum zu lassen. Die Sicherheit seines Gefühls war in di e sem Punkt von der gleichen Intensität wie bei der Auswahl eines Beutekörpers. Noch nie hatte ein Mensch deutlicher zu ihm gespr o chen, nicht einmal Isaak oder Anyanwu. Die Kräfte des Mädchens reizten und lockten ihn. Natürlich würde er sie nicht töten. Er tötete nicht das beste se i ner Kinder. Aber er würde das von ihr nehmen, was er jetzt von ihr b e kommen konnte. Und sie würde das bekommen, was sie von ihm erhoffte.
»Ich bin nur wegen dir zurückgekommen«, sagte er l ä chelnd. »Nicht wegen irgendeines anderen. Ich kam nur, weil ich spürte, wie nahe du deinem Übe r gang bist. Ich hatte das Bedürfnis, mich davon zu überzeugen, daß alles mit dir in Ordnung ist.«
Diese Worte schienen ihr zu genügen, denn sie warf die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Es war kein Kuß, wie ihn die Tochter ihrem Vater geben sollte.
»Ich mag es auch«, sagte sie verschämt. »Was David und Melanie tun, meine ich. Oft habe ich versucht, herau s zufinden, wann sie es tun, versucht, dabei mi t zumachen. Aber ich kann es nicht. Es kommt bei mir von selbst oder überhaupt nicht.« Und sie wiederholte die Worte ihres Stiefvaters – ihres Großvaters. »Ich muß etwas eigenes h a ben. Etwas, das mir allein gehört, etwas, das ich mit ke i nem anderen zu teilen brauche.« Ihre Stimme hatte einen wilden, fordernden Ton angenommen, als verweigere ihr Doro, w o nach sie verlangte.
»Weshalb sagst du das mir?« fragte er und spielte mit ihr. »Ich bin im Augenblick nicht einmal schön. Nimm doch einen der Jungen aus der Stadt.«
Ihre Finger krallten sich in seine Arme, die scharfen N ä gel gruben sich in sein Fleisch. »Du lachst schon wieder über mich«, zischte sie. »Bin ich wirklich so lächerlich? Bitte …«
Zu seinem Ärger mußte Doro an Anyanwu denken. Bi s her hatte er den Annäherungsversuchen seiner Töchter stets widerstanden. Es war ihm zu einer G e wohnheit geworden. Nweke war das letzte Kind, das Doro Anyanwu abgefo r dert hatte – dabei hatte er nicht aufgehört, ihren Abergla u ben zu respektieren – obwohl Anyanwu ihm
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