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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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geschehen«, sagte Doro.
    »Alles davon ist mir geschehen. Jeden Biß, jeden Fi n gernagel, jeden kleinsten Schmerz habe ich g e spürt.«
    Doro nahm ihre Hände und öffnete die zusammengebal l ten Fäuste. Er sah die blutigen Male, wo die Fingernägel sich in das Fleisch der Handballen g e bohrt hatten. Doro fuhr mit dem Finger über die harten, sauber geschnittenen Fi n gernägel. »Alle zehn«, sagte er, »genau dort, wo sie hing e hören. Nichts ist mit dir geschehen.«
    »Du verstehst mich nicht!«
    »Ich habe den Übergang schon hinter mir, Kind. Vie l leicht bin ich der erste Mensch, der jemals einen Übergang durc h gemacht hat. Ich weiß, was mit dir geschehen ist, ba s ta.«
    »Dann müßtest du alles vergessen haben. Vielleicht hat das, was geschehen ist, keine Male auf deinem Körper hi n terlassen. Aber es hinterläßt Male. Es ist Wirklichkeit. O Gott, es ist eine so furchtbare Wir k lichkeit!« Sie begann erneut zu schluchzen. »Wenn jemand einen Sklaven oder einen Verbrecher au s peitscht, fühle ich es, und es ist für mich so wirklich, wie für denjenigen, der die Peitschenhi e be b e kommt.«
    »Aber es hat keine Folgen für dich, wenn andere g e tötet werden«, sagte Doro. »Du stirbst deshalb nicht auch.«
    »Wieso nicht. Menschen sterben während des Übe r gangs. Du selbst bist dabei gestorben.«
    Doro grinste. »Nicht ganz.« Dann seufzte er. »Hör zu, das einzige, worüber du dir keine Sorgen zu machen brauchst, ist, daß du so wirst wie ich. Du wirst etwas B e sonderes sein, gut. Aber nicht werden wie ich.«
    Sie schaute ihn an. Nach einigem Zögern sagte sie: »Ich wäre aber gern wie du.«
    Nur das jüngste seiner Kinder sagte solche Worte. Er riß sie an sich, preßte ihren Kopf an seine Schulter. »Nein!« sagte er. »Das wäre zu gefährlich. Ich weiß, was du sein möchtest, und es wäre keine gute Idee, mich zu überr a schen.«
    Sie verstand und schwieg. Wie die meisten Menschen versuchte sie nicht, ihm davonzulaufen, weil er sie gewarnt oder ihnen gedroht hatte. »Was werde ich sein?« fragte sie.
    »Ich hoffe, jemand, der für andere das zu tun imstande ist, was deine Mutter für sich selbst tun kann. Eine Heil e rin. Aber selbst wenn du nur die Beg a bung eines Elternteils geerbt hättest, wärst du noch mächtig und furchteinflößend. Aber trotzdem wärest du nicht wie ich. Dein Vater konnte, bevor ich ihn übernahm, nicht nur Gedanken lesen, er b e saß auch die Fähigkeit, in geschlossene Räume hineinzu b licken – eine Art von zweitem Gesicht.«
    Nweke blickte auf. »Du bist mein Vater! Ich will von keinem sonst etwas hören!«
    »Hör zu!« sagte er rauh. »Wenn du den Übergang hinter dir hast, wirst du es in Isaaks und Anyanwus Gedanken lesen. Du solltest es von Anneke wissen, daß ein Geda n kenleser sich selbst nicht lange tä u schen kann.« Anneke Strycker Croon. Es wäre gut gewesen, sie hätte diese U n terhaltung mit Nweke geführt. Sie war Doros beste Geda n kenleserin seit einem halben Dutzend Generationen und hatte eine ausgezeichnete Selbstkontrolle. Nachdem ihr Übe r gang vollzogen war, hatte sie sich in die Gedanken eines anderen nur eingeschaltet, wenn sie es wollte. Ihr einziger Mangel war ihre Unfruchtbarkeit. Anyanwu ve r suchte ihr zu he l fen. Doro brachte ihr einen Männerkörper nach dem anderen, alles umsonst. So hatte Anneke schlie ß lich Nweke als ihr Kind ang e nommen. Das junge Mädchen und die alte Frau hatten sich von Anfang an gemocht. Sie waren einander so ähnlich, daß es kaum Geheimnisse zw i schen ihnen gab. Selten fand jemand mit Annekes Fähi g keiten irge n deinen Gefallen an Kindern. Doro sah diese Freundschaft als gutes Omen für Nwekes Entwicklung an. Doch inzw i schen war Anneke schon drei Jahre tot, und Nweke stand allein. Zwe i fellos waren die nächsten Worte, die sie sprach, w e nigstens zum Teil mit ihrer Einsamkeit zu erklären.
    »Liebst du uns?« wollte sie wissen.
    »Euch alle?« Er wußte, daß sie nicht jeden – alle seine Leute – meinte.
    »Diejenigen, die sich verändern«, sagte sie, ohne ihn a n zusehen. »Die, die anders sind.«
    »Ihr alle seid anders. Es ist nur eine Sache der verschi e den starken Ausprägung und Brauchbarkeit.«
    Sie schien sich zu zwingen, ihm in die Augen zu scha u en. »Du lachst über mich. Wir erleiden solche Schmerzen um deinetwillen, und du lachst.«
    »Nicht über deine Schmerzen, Kind.« Er atmete tief, und der belustigte Ausdruck auf seinem Gesicht ve r schwand. »Nicht über

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