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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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ist doch früher auch schon bewußtlos geworden, oder nicht?«
    »Natürlich. Aber dies ist der Übergang. Ich weiß es.«
    Vermutlich hatte sie recht. Doro spürte das Mädchen jetzt ungeheuer stark. Wäre sein jetziger Körper schwächer g e wesen oder schon längere Zeit von ihm benutzt worden, er hätte es nicht gewagt, so nahe bei Nweke zu bleiben.
    »Hast du vor, zu bleiben?« frage Anyanwu, als habe sie seine Gedanken gelesen.
    »Eine Zeitlang.«
    »Weshalb? Noch nie zuvor bist du hiergeblieben, wenn meine Kinder in der Umwandlung standen.«
    »Bei ihr ist es etwas anderes.«
    »Das habe ich gesehen!« Erneut streifte ihn ihr veräc h tlicher Blick. »Was hat das zu bedeuten, Doro?«
    Er tat nicht so, als verstehe er ihre Frage nicht. »Kannst du mir sagen, was sie bisher empfangen hat? Welche G e danken bei ihr angekommen sind?«
    »Sie erzählte mir von dem Weißen in der vergangenen Nacht – von seiner Folterung.«
    »Das meine ich nicht! Sie hat Leute gehört, die es im Bett miteinander trieben. Ziemlich häufig sogar.«
    »Und du bist der Meinung, das sei zuwenig für ein u n verheiratetes Mädchen!«
    »Sie ist achtzehn. Es war nicht genug.«
    Nweke ließ ein schwaches Stöhnen hören. Es klang nach einem quälenden Traum. Und sie würde aus diesen entset z lichen Träumen nicht erwachen, bis alles vorüber war.
    »Du hast meine Kinder früher nie belästigt«, sagte Anyanwu.
    »Ich habe mich oft gefragt, ob du das jemals bemerkt hast.«
    »Ist es das?« Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Du hast mich also bestraft für meine … für meine U n dankbarkeit.«
    »… nein!« Seine Augen blickten an ihr vorbei, ohne daß er sich bewegt hätte. »Ich bin nicht mehr daran interessiert, dich zu bestrafen.«
    Sie wandte sich ab, ein wenig zu hastig, und ließ sich in der Nähe des Bettes auf einem Stuhl nieder. Der Stuhl war höher als normal, so daß es ihr möglich war, Nweke stä n dig im Auge zu behalten und sie, wenn es notwendig war, so rasch wie möglich zu erreichen. Menschen, deren Übe r gang bevorstand, brauchten den körperlichen Kontakt mit and e ren, um die Verbindung mit der Wirklichkeit nicht ganz zu verli e ren.
    Aber im Augenblick diente alles, was Anyanwu tat, nur dazu, ihre Erregung zu verbergen. War es Furcht, fragte sich Doro, war es Zorn, Scham oder Haß? Zu seinem let z ten, ernstlichen Versuch, Anyanwu zu bestrafen, hatte er Nwekes Vater benutzt. Dieser Versuch hatte zwischen i h nen gestanden, solange Nweke lebte. Von allem, was Doro Anyanwu jemals angetan hatte, war dies das Schlimmste gewesen. Anyanwu hatte sich verzweifelt zur Wehr gesetzt. Und vielleicht war sie nahe daran gewesen, aus dem Kampf als Siegerin hervorzugehen. Vielleicht hatte sie s o gar gewonnen. Und vielleicht war dies der Grund, weshalb der Gedanke daran ihm immer noch Unbehagen bereitete.
    Doro schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmer k samkeit wieder dem Mädchen zu. »Glaubst du, sie wird die Sache unbeschadet durchstehen?« fragte er.
    »Bisher ist noch keiner unter meiner Obhut gesto r ben.«
    Er überhörte den Hohn in ihrer Stimme. »Wie machst du das, Anyanwu? Wie kannst du ihnen eine solche Hilfe sein, obwohl es dir nicht möglich ist, sie auf diese dunkle, g e heimnisvolle Weise zu erreichen wie ich?«
    »Ich beiße sie ein wenig. Sie ist gesund und kräftig. Nichts an ihr schmeckt nach Tod.« Doro hatte den Mund zu einer Antwort geöffnet, doch mit einer Handbewegung gebot sie ihm zu schweigen. »Wenn ich es dir genauer e r klären könnte, würde ich es tun. Vielleicht wird es eines Tages eine Möglichkeit dazu geben – an dem Tag, an dem du mir erklären kannst, wie du von Körper zu Körper wechselst.«
    »Touche«, sagte er und zuckte die Schultern. Er holte e i nen Stuhl und stellte ihn ans Fußende des Bettes. Dort nahm er Platz und wartete, bis Nweke zitternd und unter wilden Schreien zu sich kam. Er redete besänftigend auf sie ein, doch sie schien ihn nicht zu hören. Anyanwu stieg zu dem Mädchen ins Bett, das Gesicht in einer übermenschl i chen Anstrengung ve r zerrt. Sie nahm Nweke in ihre Arme, bis die Tränen des Mädchens versiegten und das Zittern nac h ließ.
    »Dein Übergang ist da«, hörte Doro Anyanwus leise Stimme. »Halte aus bis morgen, und du wirst die Macht einer Göttin besitzen.«
    Das war alles, was sie sagen konnte. Nwekes Körper spannte sich. Würgende Laute drangen über ihre Lippen, und Anyanwu zog sich langsam von ihr zurück. Doch an s tatt sich zu erbrechen,

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