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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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Nähe versagte ihr Gedächtnis den Dienst. Leer und ausgehöhlt und voller Angst stand sie vor dem frischen Grabhügel.
    »Und nun wirst du dich um diese Wunden kümmern«, sa g te Doro. »Ich habe vor, diesen Körper eine Zeitlang zu b e nutzen.«
    Sie würde also am Leben bleiben – eine Zeitlang. Mit seinen Worten hatte er ihr zu verstehen gegeben, daß sie leben würde. Sie suchte seine Augen. »Ich habe bereits damit begonnen. Schmerzen die Wu n den stark?«
    »Nicht sehr.«
    »Ich habe schon eine Medizin hineingerieben.«
    »Werden sie davon heilen?«
    »Ja, wenn du für Sauberkeit und für feste Nahrung sorgst. Und … trink nicht so furchtbar, wie er das getan hat!«
    Doro lachte. »Erneuere diese Medizin lieber noch mal«, sagte er. »Ich möchte, daß die Wunden so schnell wie mö g lich heilen.«
    »Aber die Medizin ist schon darauf. Sie braucht ei n fach ihre Zeit, um zu wirken.«
    Anyanwu verspürte Doro gegenüber ein Gefühl des Ekels. Der Gedanke entsetzte sie, ihn berühren zu müssen. Es hatte ihr nichts ausgemacht, Thomas a n zufassen, und sie hatte ihn sogar trotz seiner Erbärmlichkeit sehr schnell lie b gewonnen. Ohne diese furchtbare Fähigkeit, die er nicht kontrollieren konnte und die ihn fast zum Wahnsinn getri e ben hatte, wäre er ein ganz prächtiger Mann gewesen, wie er es zum Schluß noch bewiesen hatte. Bereitwillig würde sie seinen Körper begraben, wenn Doro ihn verla s sen hatte. Aber solange Doro ihn trug, lehnte sich alles in ihr dagegen auf, ihn anzufassen. Vielleicht hatte Doro das längst e r kannt.
    »Ich sagte, du sollst die Medizin noch einmal e r neuern! Was muß ich noch tun, um dich Gehorsam zu lehren!«
    Sie nahm ihn mit in die Hütte und zog ihn aus. Dann b e handelte sie erneut den kranken, von Wunden b e deckten Körper. Als sie damit fertig war, zwang er sie, sich zu en t kleiden und sich zu ihm zu legen. Sie unterdrückte die Tr ä nen, denn sie war sicher, daß er nur darauf wartete. Doch als alles vorbei war, wurde sie von einer heftigen Krankheit befallen. Und zum erstenmal, nach unendlich langer Zeit, vermochte sie nicht, dieser Krankheit Herr zu werden.

IX
    Nweke begann zu schreien. Doro hörte es, ohne beunr u higt zu sein. Das Schicksal des Mädchens lag während di e ser Stunden nicht in seiner Hand. Es gab nichts, das er tun konnte, außer zu warten und sich an das zu erinnern, was Anyanwu gesagt hatte. Wenn sie dabei war, hatte noch j e der den Übergang geschafft. Es war unwahrscheinlich, daß ihr Erfolg ausgerechnet durch den Tod der eigenen Tochter beeinträchtigt werden würde.
    Außerdem war Nweke stark und kräftig. Alle Kinder Anyanwus waren das. Eine Tatsache von entsche i dender Wichtigkeit. Doros persönliche Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie gefährlich eine schwache Gesundheit beim Ablauf e i nes Übergangs sein konnte. Er ließ seine Gedanken z u rückwandern in die Zeit seines eigenen Übergangs, um sich von der Sorge um Nweke abzulenken. Er erinnerte sich an seinen Übergang mit aller Deutlichkeit. Es gab viele Jahre danach, an die er kaum noch eine Erinnerung hatte, aber seine Kindheit und der Übergang, der diese Kindheit bee n det hatte, hafteten deutlich in seinem Gedächtnis.
    Er war ein kränkliches, ein wenig zurückgebliebenes Kind gewesen, das letzte von zwölf, die seine Mutter geb o ren hatte, und das einzige, das am Leben g e blieben war. Der Name, mit dem Anyanwu ihn ei n mal bedacht hatte, paßte sehr genau auf ihn: Ogbanje. Die Leute erzählten, se i ne Brüder und Schwestern seien robuste, gesund auss e hende Babys gewesen, dennoch waren sie gestorben. Er selbst war klein und knochig und fremdartig, und nur seine Eltern schienen der Meinung gewesen zu sein, es sei mit rechten Dingen zugegangen, daß er am Leben geblieben war. Die Leute redeten über ihn hinter vorgehaltener Hand. Sie b e haupteten von ihm, er sei gar kein ric h tiges Kind – er sei ein Geist oder etwas Derartiges. Sie munkelten auch, er sei nicht der Sohn des Mannes seiner Mutter. Die Mutter verteidigte ihn gegen die Leute so gut sie konnte, und sein V a ter – falls dieser Mann überhaupt sein Vater war – gab ihn als seinen Sohn aus und war stolz darauf. Er war ein a r mer Mann, der sonst nur wenig besaß, auf das er stolz sein konnte.
    Doros Eltern waren die schönste Erinnerung an seine Kindheit. Beide liebten ihn abgöttisch, und er war ihr ein und alles, nachdem sie elf ihrer Kinder im Säu g lingsalter verloren hatten. Die anderen Menschen dagegen

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